Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Das andere Gesicht des Gaswerks

Architektu­r ist das Thema der Fotografin Sigrun Lenk. In Langzeitpr­ojekten verfolgt sie, wie die alten Industriea­reale in Augsburg sich verändern

- VON RICHARD MAYR

Plötzlich taucht ein Gesicht auf, wie von Geisterhan­d gemalt. Vorher war hier nur Wand, nur der Putz und die Farbe, alles in die Jahre gekommen, seit Jahren leer stehend, eine alte Industrieh­alle auf dem Gaswerkare­al in Augsburg. Jetzt sind da zwei Augen, ist da ein Mund, der breit grinst. Und Sigrun Lenk weiß in dem Augenblick, dass sich der Tag gelohnt hat. Der Mund sind ein paar frisch gemauerte, unverputzt­e Ziegelstei­ne, die Augen Einsparung­en an der Wand. Lenk nimmt ihre Kamera, sucht den richtigen Abstand, drückt ab. Volltreffe­r.

Schon ein Berufslebe­n lang beschäftig­t sich die 62-Jährige mit Architektu­rfotografi­e. Auf der einen Seite nimmt sie Aufträge von Architekte­n und Bauträgern an, auf der anderen verfolgt sie mit großer Hartnäckig­keit und Ausdauer eigene Projekte. Diese Seite steht hier im Mittelpunk­t. Lenk begann nach ihrem Kommunikat­ionsdesign-Studium in Augsburg mit der Fotografie. Schon immer hat sie sich besonders zu alten Industriea­nlagen hingezogen gefühlt. In Augsburg waren das zum Beispiel das BahnparkAr­eal, das Textilvier­tel oder das Gelände des Gaswerks in Oberhausen.

Lenk interessie­rt an diesen Flächen nicht nur der erste Augenblick, wenn sie alles neu entdeckt. Vielmehr möchte sie den Wandel fest- halten. Im Textilvier­tel begann sie, 1999 die ersten Fotos zu machen. „Jetzt ist diese Serie zu Ende gegangen“, sagt sie. Fast 20 Jahre ist sie immer wieder mit der Kamera dort unterwegs gewesen und hat die Konversion, die Umwandlung des Industriea­reals in ein Wohngebiet, begleitet.

Seit 2004 fotografie­rt Lenk regelmäßig das Gaswerkare­al in Oberhausen. Sie hat das Grenzenlos-Festival dort kommen und gehen gesehen. Gerade verfolgt sie, wie im Ofenhaus eine neue Spielstätt­e für das Staatsthea­ter Augsburg entsteht. Den zur Renovierun­g eingepackt­en großen Gasbehälte­r hat sie aufge- nommen: „Das hat etwas von Christo“, sagt Lenk. Und einen komplett eingestaub­ten Bagger, auf dem Bauarbeite­r ein Herz hinterlass­en haben. Dazu hat sie Innenaufna­hmen des Ofenhauses gemacht, in denen der Bau wie eine Kathedrale wirkt.

Manchmal begegnen Lenk Kunstwerke auf der Baustelle. Kabbelroll­en, die wie Augen ausschauen, Farbproben an der Wand, die wie ein abstraktes Kunstwerk aussehen, oder das eingangs beschriebe­ne Gesicht. Diese Foto-Funde bereiten ihr große Freude. Wobei dabei wie in allen anderen Fällen für sie ihre erste und wichtigste Regel gilt: „Nichts verändern!“Lenk will der Wirklichke­it nicht nachhelfen, indem sie sie für Aufnahmen zurechtste­llt. Alle Dinge bleiben an ihrem Ort. Ihre Aufgabe ist es, den richtigen Punkt für das Foto zu finden. Und wenn es den nicht gibt, wird nicht fotografie­rt. „Ich mache eher wenig Bilder“, sagt sie. Blende, Belichtung und Schärfe stimmen meist schon bei der ersten Aufnahme. Und mit Photoshop wird im Anschluss auch nur spärlich gearbeitet.

Im Grund interessie­rt sich Lenk in ihren Projekten für dreierlei. Sie hält den Wandel eines Gebiets fest, sie möchte die soziale Komponente und die Geschichte einfangen, am Ende findet sie noch Kunstwerke, die für sich und losgelöst vom Areal stehen können. Mit ihren Aufnahmen möchte sie Außenstehe­nden auch die Schönheit von Industriea­realen näherbring­en. Lenk glaubt, dass ihr die Begeisteru­ng für das Thema in die Wiege gelegt worden sei. Sie ist an der Memminger Straße in Augsburg mitten in einem Gewerbegeb­iet aufgewachs­en.

Langweilig wird es Lenk in einer Stadt wie Augsburg nicht. Im Gegenteil. „Es verändert sich gerade so viel“, sagt Lenk. Da liegt die Gefahr eher darin, sich in zu vielen verschiede­nen Projekten zu verzetteln.

» finden Sie zusätzlich zum Artikel noch eine Bildergale­rie von Sigrun Lenk vom Gaswerkare­al

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Wer grinst da so breit? Dieses Gesicht hat die Fotografin Sigrun Lenk im Gaswerkare­al entdeckt.
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Fotos: Sigrun Lenk „Koche mit Gas“steht auf dem kleinen Scheibenga­sbehälter. Sigrun Lenk fotografie­rt seit 14 Jahren auf dem Gaswerkare­al.
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