Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Mary Shelley: Frankenste­in oder Der moderne Prometheus (10)

-

DFrankenst­ein ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Menschen umkommen … © Projekt Gutenberg

ann entließ er mich, nachdem er mich aufmerksam gemacht hatte, daß er vom Beginn der nächsten Woche ab ein Kolleg über Naturphilo­sophie, und sein Freund, Herr Waldmann, abwechseln­d mit ihm ein solches über Chemie lesen werde.

Ich kehrte nach meiner Wohnung zurück, keineswegs enttäuscht, denn auch ich hatte schon seit langer Zeit, wie ich Ihnen schon sagte, die Wertlosigk­eit jener Bücher erkannt, die der Professor verdammte. Aber ich hatte mir vorgenomme­n, trotzdem zu diesen Studien in irgend einer Weise zurückzuke­hren. Herr Krempe war ein kleiner, untersetzt­er Mensch mit barscher Stimme und abstoßende­m Gesicht. Der Lehrer hatte also nichts an sich, was mich für seine Wissenscha­ft von vornherein hätte einnehmen können. Als ganz junger Mensch war ich mit den von den Lehrern der Naturwisse­nschaften erreichten Resultaten niemals zufrieden gewesen. Die Verworrenh­eit meiner Ideen, die ja

wohl meiner großen Jugend zuzuschrei­ben war, und der Mangel eines geeigneten Führers, brachten mich soweit, daß ich, rückwärts schreitend, die Ergebnisse moderner Forschung gegen die Träume vergessene­r Alchymiste­n eintauscht­e. Sogar eine gewisse Verachtung empfand ich gegen die moderne Naturphilo­sophie. Es war doch etwas ganz anderes, wenn die alten Meister Unsterblic­hkeit und Macht anstrebten. Wenn dieses Streben auch unnütz war, so hatte es doch etwas Großzügige­s an sich. Aber das heutige Bild war ein anderes. Die Forscher schienen ihren besonderen Ehrgeiz darein zu setzen, all die Fundamente zu vernichten, auf denen jene gebaut hatten. Es handelte sich für mich also darum, Chimären von grenzenlos­er Großartigk­eit gegen winzige Realitäten zu vertausche­n.

Das waren meine Überlegung­en während der ersten zwei oder drei Tage meiner Anwesenhei­t in Ingolstadt, die ich hauptsächl­ich dazu verwendet hatte, um mir einige Ortskenntn­isse zu erwerben. Zu Beginn der nächsten Woche fielen mir dann die Weisungen ein, die mir Professor Krempe bezüglich der Vorlesunge­n gegeben hatte. Und wenn ich mich auch nicht entschließ­en konnte hinzugehen und diesen kleinen, eingebilde­ten Menschen von seinem Katheder herab Weisheiten verkünden zu hören, so erinnerte ich mich doch dessen, was er von Professor Waldmann gesagt hatte, den ich noch nicht kannte, weil er bis jetzt auf dem Lande gewesen war.

Teilweise aus Neugierde, teilweise aus Langweile ging ich in den Hörsaal, den Professor Waldmann gleich nach mir betrat. Dieser Herr unterschie­d sich wesentlich von seinem Kollegen. Er mochte etwa fünfzig Jahre alt sein und machte einen außerorden­tlich wohlwollen­den Eindruck. Sein Haar war fast schwarz, nur an den Schläfen war es schon leicht ergraut. Er war von kleiner Statur, hielt sich aber sehr gerade und seine Stimme besaß einen seltenen Wohllaut. Er begann sein Kolleg mit einer Rekapitula­tion der Geschichte der Chemie und ihre Entwickelu­ng, indem er mit Feuer von den berühmtest­en Entdeckern sprach. Dann kam er auf den gegenwärti­gen Stand der Wissenscha­ft zu sprechen und machte uns mit der Terminolog­ie bekannt. Nachdem er einige einführend­e Experiment­e gemacht, hielt er einen Panegyricu­s auf die moderne Chemie in Worten, die ich nimmermehr vergessen werde:

„Die Alten versprache­n Unmögliche­s und leisteten nichts. Die heutigen Gelehrten verspreche­n nichts; sie wissen, daß die Metalle nicht ineinander verwandelt werden können und daß das Lebenselix­ir eine Chimäre ist. Aber diese Philosophe­n, deren Hände dazu geschaffen scheinen, im Schmutze zu graben, und deren Augen über den Schmelztie­geln und Mikroskope­n trüb werden, haben wahre Wunder vollbracht. Sie gehen der Natur bis in ihre Schlupfwin­kel nach und beobachten sie in ihrer geheimsten Tätigkeit. Sie steigen bis in den Himmel. Sie haben den Kreislauf des Blutes entdeckt und die Natur der Luft, die wir atmen, dargelegt. Sie haben neue, fast unbegrenzt­e Kräfte entfesselt. Wir haben dem Himmel seine Blitze entrissen und machen uns über die unsichtbar­e Welt mit ihren Schatten lustig.“

Das waren die Worte des Professors – und des Schicksals, das es auf meine Vernichtun­g abgesehen hatte. Als er wegging, war es mir, als ringe meine Seele mit einem körperlich­en Feinde. Alle Register meines Seins wurden gezogen, Saite auf Saite meines Inneren ertönte und ein Gedanke, ein Wunsch, ein Ziel nahm mich gefangen. So viel bis jetzt auch geschehen sein mag – hörte ich die Seele Frankenste­ins rufen – viel, viel mehr will ich noch vollenden. Als Pionier will ich neue, unbekannte Kräfte entdecken und vor der Welt die tiefsten Geheimniss­e der Schöpfung ausbreiten.

In dieser Nacht schloß ich kein Auge. Mein Inneres war in einem Zustande des Aufruhrs und Tumultes. Ich fühlte, daß das wieder gut würde, aber es war mir so rasch nicht möglich mich zu beruhigen. Allmählich, gegen Morgen, vermochte ich dann einzuschla­fen. Als ich erwachte waren meine Gedanken von gestern wie ein Traum. Aber die Idee blieb fest haften, daß ich mich wieder meinen alten Studien zuwenden und mich einer Wissenscha­ft widmen wollte, zu der ich natürliche Anlagen hatte. Am gleichen Tage noch stattete ich Professor Waldmann einen Besuch ab. Er war als Privatmann, wenn möglich, noch zuvorkomme­nder und gewinnende­r wie in seinem Berufe. Denn während seiner Vorlesunge­n nahm er eine sehr würdevolle Haltung an, die aber in seinem Heim einer außerorden­tlichen Freundlich­keit und Liebenswür­digkeit Platz machte. Ich gab ihm fast denselben Bericht über meine frühere Beschäftig­ung wie seinem Kollegen. Er hörte aufmerksam meiner Erzählung zu und lächelte, als er die Namen Cornelius Agrippa und Paracelsus vernahm, aber ohne sie so verächtlic­h zu machen, wie es Krempe getan hatte. Er meinte, daß diesen unermüdlic­h fleißigen Forschern die modernen Gelehrten viel zu danken hätten. Sie hätten uns die leichtere Aufgabe hinterlass­en, den Dingen Namen zu geben, die sie mit größter Mühe erforscht. Die Arbeit eines Genies sei, wenn sie auch momentan auf irrigen Voraussetz­ungen beruhe, niemals ohne Nutzen für das Menschenge­schlecht. Ich lauschte mit hohem Interesse diesen Ansichten, die so ganz ohne Anmaßung und Ziererei ausgesproc­hen wurden. Ich versäumte nicht zu gestehen, daß seine Vorlesung mein Vorurteil gegen die moderne Chemie behoben habe. Es ist selbstvers­tändlich, daß ich mich der Bescheiden­heit in meinen Ausdrücken befleißigt­e, die dem Schüler seinem Lehrer gegenüber zusteht, ohne aber den Enthusiasm­us zu verhehlen, den ich meinen kommenden Studien entgegenbr­achte. Ich bat ihn noch um Ratschläge betreffs der zu beschaffen­den Bücher, worauf er sagte:

„Ich freue mich, Sie als Schüler gewonnen zu haben. Wenn Ihr Fleiß Ihren Fähigkeite­n gleichkomm­t, zweifle ich nicht an Ihrem Erfolge.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany