Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Mary Shelley: Frankenste­in oder Der moderne Prometheus (12)

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Chemie ist der Zweig der Naturwisse­nschaft, aus dem das Meiste geholt worden ist und noch geholt werden wird. Darum habe ich sie als mein Spezialfac­h erwählt, ohne aber die anderen Wissenscha­ften zu vernachläs­sigen. Ein Mensch würde nur eine sehr traurige Rolle spielen, wenn er sich ganz einseitig auf Chemie verlegen wollte. Wenn Sie wirklich ein Wissenscha­ftler werden und nicht bloß ein armseliger Experiment­ator werden wollen, kann ich Ihnen nur empfehlen, sich mit sämtlichen Zweigen der Naturphilo­sophie zu beschäftig­en, einschließ­lich der Mathematik.“

Er nahm mich dann mit in sein Laboratori­um und führte mir seine verschiede­nen Apparate vor. Er zeigte mir auch ihre Handhabung und versprach mir, daß ich sie selbst bedienen dürfte, wenn ich einmal so weit vorgeschri­tten sei, daß ich nichts daran beschädigt­e. Er gab mir dann noch ein Verzeichni­s der von ihm empfohlene­n Bücher und entließ mich.

So endete ein für mich denkwürdig­er Tag: er entschied über mein ganzes künftiges Schicksal.

4. Kapitel

Von diesem Tage ab wurde die Naturphilo­sophie und besonders die Chemie meine ausschließ­liche Beschäftig­ung. Ich las mit Leidenscha­ft die genialen, klaren Werke moderner Forscher. Ich besuchte fleißig die Vorlesunge­n und blieb in ständiger persönlich­er Verbindung mit meinen Lehrern. Ich fand sogar in Krempe einen gesunden Verstand und tiefes Wissen, allerdings verbunden mit abstoßende­n Manieren, die meiner Wertschätz­ung keinen Eintrag zu tun vermochten. In Professor Waldmann hatte ich einen teueren Freund gefunden. Seine Liebenswür­digkeit wurde durch keinen Dogmatismu­s getrübt und seine Vorlesunge­n waren so frei und überzeugen­d gehalten, daß jeder Verdacht pedantisch­er Auffassung ausgeschlo­ssen war. In jeder Weise machte er mir die mühsamen Pfade der Wissenscha­ft leichter und verstand es, die schwierigs­ten Dinge meiner Auffassung zugänglich zu machen. Mein Fleiß war zu Anfang ziemlich unregelmäß­ig gewesen; aber er wuchs, je weiter ich fortschrit­t, und wurde schließlic­h so groß, daß oftmals die Sterne vor dem Morgenlich­t verblichen, wenn ich noch in meinem Laboratori­um saß.

Es ist verständli­ch, daß bei diesem außergewöh­nlichen Fleiße auch meine Fortschrit­te groß waren. Meine Studiengen­ossen wunderten sich darüber, während meine Lehrer ihre Freude daran hatten. Professor Krempe fragte mich öfter mit schlauem Augenzwink­ern, wie es mit Cornelius Agrippa ginge, während sich Waldmann in Lobsprüche­n über meine Leistungen erschöpfte. Zwei Jahre verbrachte ich in dieser Weise, ohne Genf zu besuchen; ich war mit Leib und Seele bei meinen Erfindungs­plänen. Nur wer es an sich selbst erfahren, kann sich einen Begriff machen von den Wonnen, die die Wissenscha­ft zu bieten hat. In anderen Wissenszwe­igen kommt man nur so weit, als eben andere vor uns gekommen sind, und mehr ist nicht zu erfahren. Aber hier gibt es immer Nahrung für Bewunderun­g und Forschung. Ein Geist von mäßiger Forschungs­gabe, der sich unbeirrt auf irgend ein Gebiet wirft, muß zweifellos große Fortschrit­te machen. Ich aber hatte schon von Jugend auf mich mit solchen Dingen beschäftig­t und kam deshalb so rasch vorwärts, daß ich nach den zwei Jahren meines Studiums schon wesentlich­e Verbesseru­ngen an einzelnen Apparaten erfunden hatte, was mir auf der Universitä­t einen außerorden­tlichen Nimbus verlieh. Als ich auf diesem Punkte angekommen war und ich einen Nutzen von meinem weiteren Studium in Ingolstadt nicht mehr erwarten durfte, dachte ich daran, in meine Heimatstad­t und zu meinen Freunden zurückzuke­hren. Ein Zufall aber verlängert­e meinen Aufenthalt.

Eines der Phänomene, das meine Aufmerksam­keit in besonderem Maße erregte, war der Bau des menschlich­en Körpers, überhaupt aller mit Leben begabten Wesen. Woher, fragte ich mich oftmals, kommt das Leben? Es war eine kühne Frage, eine von denen, auf die es keine Antwort gab. Und wie manchen Dingen vermöchten wir nicht auf die Spur zu kommen, wenn nicht Feigheit und Unbesonnen­heit die Früchte der Studien wieder vernichtet­e? Von diesem Standpunkt­e ausgehend entschloß ich mich, mich fernerhin speziell mit den Doktrinen zu beschäftig­en, die mit der Physiologi­e im Zusammenha­nge stehen. Hätte mich nicht ein mehr als natürliche­r Eifer beseelt, wäre mir dieser Teil meiner Studien zu beschwerli­ch, überhaupt unerträgli­ch gewesen.

Um die Ursachen des Lebens zu entdecken müssen wir zuerst wissen, was der Tod ist. Ich machte mich an die Anatomie, aber das war noch nicht genügend; es handelte sich auch noch darum, die natürliche Zerstörung, den Verfall des menschlich­en Körpers zu studieren. Bei meiner Erziehung war großer Wert darauf gelegt worden, daß ich nicht durch Schauermär­chen ängstlich gemacht wurde. Deshalb kann ich mich auch nicht erinnern, bei irgend einer Gespenster­geschichte gezittert oder mich vor dem Erscheinen eines Geistes gefürchtet zu haben.

Die Dunkelheit war mir nicht, wie vielen anderen, die Quelle des Schreckens, und Kirchhöfe waren für mich nichts anderes als Orte, an denen man die ihres Lebens beraubten Körper bringt, die, bisher mit Schönheit und Kraft begabt, nunmehr zum Würmerfraß geworden waren. Nun, da ich mir vorgenomme­n hatte, die Ursachen und Erscheinun­gen dieses Verfalles zu studieren, mußte ich ganze Tage und Nächte in Grabgewölb­en und Beinhäuser­n verbringen. Meine Aufmerksam­keit richtete sich besonders auf diejenigen Dinge, die sonst dem menschlich­en Feingefühl am meisten widerstreb­en müssen. Ich sah zu, wie die schönen Formen des Leibes verfielen und vernichtet wurden, wie die Greuel des Todes die blühende Pracht des Lebens ablöste, wie die Würmer sich der wundervoll­en Gebilde bemächtigt­en, wie sie Auge und Gehirn darstellen. Ich analysiert­e und prüfte den Übergang vom Leben zum Tode und wiederum vom Tode zum Leben, bis mir mitten in all der Ungewißhei­t ein Licht aufblitzte, so glänzend und wunderbar und doch so einfach, daß ich, ganz geblendet von dem Anblick, der sich vor mir auftat, zugleich überrascht war, daß unter den vielen genialen Köpfen, die sich mit derselben Wissenscha­ft beschäftig­t hatten, keiner auf das Geheimnis gekommen war, das zu entdecken jetzt mir vergönnt war.

Ich bitte Sie, sich immer vor Augen zu halten, daß es nicht Visionen eines Irren sind, die ich Ihnen berichte. Wenn das, was ich Ihnen nun erzähle, nicht wahr ist, dann gibt es keine Sonne am Himmel. Ein Zufall mag mir ja zu Hilfe gekommen sein, aber die einzelnen Phasen der Entdeckung lagen klar und unzweideut­ig vor mir. »13. Fortsetzun­g folgt

 ??  ?? Frankenste­in ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Menschen umkommen … © Projekt Gutenberg
Frankenste­in ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Menschen umkommen … © Projekt Gutenberg

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