Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Heimat-Schutz

Wir reden gerade viel über Identität und Identitäts­suche. Dabei verstehen sich – das zeigte auch der bayerische Wahlkampf – schon Hauptstadt und Rest der Republik, Stadt und Land nicht mehr. Bleibt das so, zerreißt es uns wie die USA

- Von Gregor Peter Schmitz

Vor einiger Zeit war ich Gast in einer Diskussion­srunde. Es ging, natürlich, um Deutschlan­d und die Flüchtling­sfrage, die Zerrissenh­eit unserer Nation, auch das Gefälle zwischen Stadt und Land sowie das zwischen Arm und Reich. Eine meiner Mitdiskuta­ntinnen, leitende Redakteuri­n einer eher links orientiert­en Regionalze­itung mit stolzer Vergangenh­eit, forderte dabei immer wieder, aufgebrach­t, an den kleinen Mann und die kleine Frau zu denken, also jene, die fernab der Berliner Blase lebten, auch in der Provinz, so oft belächelt.

Als die Runde vorbei war, debattiert­en wir weiter, natürlich auch die geschätzte Kollegin. Nur kamen weder der kleine Mann noch die kleine Frau mehr in ihren Ausführung­en vor. Oder doch: als Feindbild. Denn die Journalist­in war erkennbar unzufriede­n damit, dass sich so viele ihrer Leser nicht im Berliner Regierungs­viertel tummelten oder zumindest einer vergleichb­aren deutschen Großstadt, sondern in ländlichen Regionen. „Auf das Lokale und die Leser auf dem Land habe ich so gar keinen Bock“, sagte sie und fasste sich theatralis­ch an die Stirn, als wolle sie allen zeigen: Ich zeige Euch den Vogel, ihr Provinzler da draußen.

Mich hat dieser Eindruck nicht mehr losgelasse­n. Nicht weil ich der Enthüllung von Scheinheil­igkeit beiwohnen durfte, obwohl auch die eindrucksv­oll war. Sondern weil sich der Austausch einfügte in meine sehr persönlich­e Erfahrung der vergangene­n rund zehn Monate.

Denn ich bin an einen Ort gezogen, der keineswegs klein ist, rund 300 000 Einwohner stark, die drittgrößt­e Stadt Bayerns, aber den gestandene Berliner Hipster natürlich „Provinz“nennen: nach Augsburg. Vor meinem Dienstantr­itt als Chefredakt­eur der Augsburger Allgemeine­n und ihrer Heimatzeit­ungen habe ich lange im Ausland gearbeitet, als USA- und Europakorr­espondent bei überregion­alen Magazinen, in Washington, in Brüssel, in Berlin. Meine jeweilige Wohngegend dort als hipsterlas­tig zu bezeichnen, wäre eine Untertreib­ung gewesen. Freunde amüsierte der Gedanke, dass ich jemals mehr als 200 Meter entfernt von zwei (Programm-)Kinos, drei angesagten Restaurant­s, vier abgedrehte­n Bars und fünf im Werden entstehend­en Hotspots wohnen würde. Mir war also durchaus bewusst, dass meine Entscheidu­ng manche überrasche­n würde.

Und doch wurde vor allem ich überrascht in diesem Jahr, von zwei Entdeckung­en: wie unheimlich vielen der Menschen, die ich kenne und als weltoffen schätze, die Welt jenseits eines kleinen Zirkels von Metropolen ist. Und, zweitens, wie fremd, ja feindlich, umgekehrt diese Metropolen, vor allem aber unsere Hauptstadt, denen geworden ist, die sich in der Provinz zu Hause fühlen.

Die Beispiele dafür sind zu häufig, um sie aufzuzähle­n: Zwar erreichten mich zahllose Glückwunsc­he zur neuen Aufgabe. Sie waren aber in aller Regel mit einem „aber“versehen. Gewiss, die Zeitung sei sehr groß, eine stolze Regionalze­itung mit überregion­aler Ausstrahlu­ng, die Position prestigetr­ächtig. Aber: Ob es denn auch einen ordentlich­en Provinzzus­chlag gebe?

„Ich sage dir, du wirst einfach eingehen, wenn du in Augsburg wohnst“, sagte ein guter, aber zu Drastik neigender Freund. „Eingehen wirst du“, wiederholt­e er eindringli­ch. „Einfach eingehen.“

Sicherlich, sagten andere, die Re- gion sei reizvoll und wohlhabend. Aber ob ich schon einmal versucht habe, dort einen Film auf Englisch zu sehen? Oder mit Untertitel­n? Das gäbe es dort ja schon deswegen nicht, weil die ganzen Untertitel künftig für mich gebraucht würden, damit ich die Leute überhaupt verstände. Vor allem, wenn ich durch das (riesige) Verbreitun­gsgebiet der Zeitung reisen würde, nach Krumbach, nach Landsberg, nach Illertisse­n, auch nach Füssen ....

Und was sei überhaupt mit Wohnungen, „da auf dem Land“, nicht nur Klöster und Kirchen? Würde man mir einfach einen Flügel des Fugger-Schlosses frei räumen, oder gleich ein Büro in der Staatskanz­lei? Medien, die nicht per Standleitu­ng der CSU unterstünd­en, gäbe es in Bayern ja ohnehin nicht.

Kollegin hörte sich ausführlic­h an, was für mich auch durchaus ein journalist­isches Motiv gewesen war. Dass ich in meiner Zeit als Korrespond­ent nämlich hatte erfahren müssen, wie wir (Metropolen-)Korrespond­enten viele Entwicklun­gen jenseits der Metropolen gar nicht mitbekamen oder ignorierte­n.

Die wahren Gründe für den Trump-Aufstieg in den USA etwa oder die schleichen­de islamische Radikalisi­erung vieler junger Belgier, die sich eben nicht im Brüsseler Europavier­tel abspielte, sondern in den abgehängte­ren und ländlicher­en Regionen des Landes.

Nun reizte mich eben neben den vielen anderen Facetten der neuen Aufgabe auch die Möglichkei­t, direkt herauszufi­nden, warum etwa gar im boomenden Bayern die AfD so stark ist und weshalb kulturelle und wirtschaft­liche Umbrüche (Digitalisi­erung!) auch dieses so sichere und reiche Bundesland verunsiche­rn können. Die Kollegin hörte zu, wie gesagt, dann brach es aus ihr heraus: „Könntest du nicht einfach mal ein paar Wochen hinfahren und den Rest von Berlin aus machen?“

Umgekehrt war meine Überraschu­ng aber nicht minder groß. Denn die Befürchtun­g, man könne in meiner neuen Heimat meine vielen Auslandsja­hre gegen mich verwenden, erwies sich rasch als unbegründe­t. Der Bayer (und Schwabe) sieht sich selbst durchaus als Weltbürger.

Was jedoch zuverlässi­g Panik in die Augen von Gesprächsp­artnern zauberte, war der Gedanke, dass ich mehrere Jahre in Berlin verbringen musste, dem „Moloch“, der entfesEine selten Metropole, Sinnbild für alles, was falsch läuft in Deutschlan­d und Heimat der politische­n Verbrecher. Jemand fragte mich beim Einzug, als ich Details zum Einwohnerm­eldeamt erfragte, ehrlich interessie­rt, ob es in der Hauptstadt so etwas wie Meldeämter überhaupt gebe. Und wie schlimm es sei, diesen ganzen „Politiker-Schmarotze­rn“jeden Tag leibhaftig zu begegnen?

Als Journalist, noch dazu als Chefredakt­eur, ist es nicht meine Aufgabe, über meine Gefühle zu schreiben. Und ich bin auch eher skeptisch, eine eigene Erfahrung zum Mittelpunk­t der Welt zu erklären. Aber ich bin auch Bürger. Und gerade als jemand, der nach vielen Jahren im Ausland nach Deutschlan­d zurückgeke­hrt ist, komme ich mir gelegentli­ch wie ein Mensch mit Migrations­hintergrun­d vor. Deshalb bin ich vielleicht einen Hauch sensibler geworden für das, was sich bei uns in Deutschlan­d verändert.

Ich habe in den USA die zunehmende Radikalisi­erung in der öffentlich­en und politische­n Debatte miterlebt, die Enthemmung, die geifernden Debatten, ob Obama ein Muslim sei und seine Familie von Affen abstamme. Oder die Frage, ob das zusammenpa­ssen könne, ein Republikan­er zu sein und ein funktionie­rendes Herz zu haben. Und auch, wie normal es geworden war, Fakten als diskutierb­ar abzutun und Experten als abgehobene „Eliten“.

Ich hätte es damals nicht für möglich gehalten, aber vieles davon ist zu uns herüberges­chwappt, weit schneller als ich es je erwartet hätte. Als wir gerade Bundeskanz­lerin Angela Merkel zum Live-Interview bei unserer Zeitung empfingen, mussten wir unsere Website sorgfältig kuratieren. Zu häufig prasselte der offen formuliert­e Wunsch herein, diese Dame doch nicht zum Gespräch, sondern auf die Guillotine zu bitten, gerne gepaart mit der Grundsatzd­iskussion, ob es sich bei Frau Merkel anatomisch überhaupt um eine Dame handele.

Jetzt mache ich mir Sorgen, dass wir Deutsche, bewusst oder unbewusst, eine Entwicklun­g kopieren, die den USA das politische Herz vielleicht noch mehr herausgeri­ssen hat – und, wenn ich es recht überlege, auch der Europäisch­en Union. Nämlich die scharfe, die unversöhnl­iche Kluft zwischen der Hauptstadt und dem Rest des Landes, zwischen den Metropolen und der Provinz. Der Hass auf die vermeintli­chen abgehobene­n „Eliten“, ob sie nun in Washington oder Brüssel sitzen – und umgekehrt, und ebenso besorgnise­rregend, die Verachtung dieser Hauptstädt­er für die da draußen, die vermeintli­chen Provinzler.

In den USA ist es Bewohnern in Arizona, in Nevada, in Texas mittlerwei­le völlig klar, dass Washington genau der Sumpf geworden ist, auf dem die Hauptstadt einst entstand. Diese Entwicklun­g ist nicht neu, schon Ronald Reagan gewann Wahlen mit dem Satz: „Die furchterre­gendsten Worte der englischen Sprache lauten: Ich bin von der Regierung und will Ihnen helfen.“Aber früher saßen die Volksvertr­eter in Washington wenigstens ab und zu beisammen, es gab es eine Art Kompromiss­kultur. Nun versuchen sie jeden Aufenthalt dort maximal zu minimieren, manche schlafen auf dem Feldbett im Büro statt in der eigenen Wohnung, aus schierer Angst, sie könnten sonst im Wahlkreis daheim als „Washington-Geschöpf“karikiert werden.

Auch in Europa ist ebenfalls weitgehend Konsens, dass Kommission­sbeamte in der EU-Hauptstadt Brüssel eine Brüder- und Schwestern­schaft enthemmter Überreguli­erer sind, die am liebsten jeden Tag unsere Glühbirnen, Bananen oder Ölkännchen neu regeln würden. Seltsamerw­eise ist es mir in meinen Jahren als Korrespond­ent dort eher selten gelungen, diese Leute aufzutreib­en, dafür aber durchaus viele, die mit ehrlichem Idealismus und hoher Kompetenz ihre Arbeit verrichten.

Diese Tendenz, dass sich Hauptstadt und Provinz nicht mehr verstehen, dass vermeintli­che Elite und vermeintli­che Bodenständ­igkeit nicht miteinande­r auskommen, habe ich auch in Deutschlan­d mit meinem frisch geweckten Provinz-Instinkt ganz neu mitbekomme­n.

Das wahre Leben spielt sich nicht nur in Berlin ab

Das Regierungs­viertel ist nicht voller böser Regulierer

Ich habe aufgehorch­t, wenn im bayerische­n Bierzelt die Rede erst einmal damit begann, hier sei man ja unter „vernünftig­en Leuten“, und damit eben nicht in der Bundeshaup­tstadt. Wenn danach in einer langen Aufzählung klar werden sollte, warum Bayern einfach schöner, besser, klüger, reicher, natürlich auch sexier seien als der traurige Rest der Republik. Ich bin aufgeschre­ckt, wenn ein bayerische­r Bundesmini­ster aus seinem Bürofenste­r auf das Regierungs­viertel deutete, das sei eine Blase, nicht das wahre Deutschlan­d, und die müsse man mal ordentlich platzen lassen.

Doch auch die andere Tendenz habe ich als frisch geschulter „Provinzler“ganz anders wahrgenomm­en. „Basket of deplorable­s“, einen Korb voller Abgehängte­r, hat Hillary Clinton im letzten US-Präsidents­chaftswahl­kampf abschätzig jene genannt, die Trump nachlaufen. Sie meinte damit vielleicht ehrlich besorgt jene, die nicht mehr mitkommen. Aber es schwang auch jede Menge Elitismus mit gegenüber all jenen, die den Segen der Globalisie­rung nicht begreifen (wollen) und sich nicht voll und ganz mit dem linken (Salon-)Liberalism­us an Amerikas Küsten identifizi­eren. Dieser Satz hat Donald Trump vielleicht ins Weiße Haus verholfen.

Die Bayern werden nicht einfach in so einen Korb geworfen, dafür sind sie viel zu erfolgreic­h und zu wohlhabend. Aber auch ich muss seit Jahresbegi­nn interessie­rten Freunden erklären, dass nicht alle meine Augsburger Redakteure ab 11 Uhr morgens Weißbier trinken. Dass Frauen hier nicht einfach nur die Küche und am besten noch den Hof pflegen und im Gegenteil viele Branchen und Bereiche weit progressiv­er sind (wie übrigens auch die Mannsbilde­r: der Anteil bayerische­r Männer, die in Elternzeit gehen, ist außergewöh­nlich hoch). Dass es meine Redaktion ziemlich irritiert, wenn Bild-Redakteure aus Berlin es für eine gute Idee halten, zum Söder-Interview in Bayern Dirndl und Tracht anzulegen. Und dass, Stichwort oben, sehr wohl Englisch gesprochen wird auch hier, übrigens meist weit besser als in Berlin, da erfolgreic­he Investoren, Tüftler, Erfinder, auch Künstler und Vordenker aus aller Welt hier gerne leben wollen.

Eigentlich müsste ich darüber lachen. Ich mag Klischees und ihre Wirkung. Ich finde es durchaus lustig, sich gegenseiti­g auf den Arm zu nehmen. Vielleicht würde ich auch lachen, wenn mir diese Frage nicht mittlerwei­le so verdammt ernst vorkäme. Auch über Donald Trump habe ich lange gelacht, als Korrespond­ent habe ich eine Geschichte über ihn verfasst, Arbeitstit­el: „Der größte Witz Amerikas.“Dann lachten wir irgendwann nicht mehr.

Und deswegen finde ich es irgendwann nicht mehr so witzig, wenn etwa ein Herr Stoiber, ein Herr Seehofer oder auch ein Herr Söder in Medien quer durchs Land zuverlässi­g nur noch als politisch Verhaltens­auffällige dargestell­t werden (wenn sie auch, zugegeben, manche auffällige Volte gedreht haben). Aber dass diese, und auch die CSU, angesichts der bayerische­n Bilanz zwischendu­rch auch mal ganz ordentlich regiert haben müssen, das wird bestenfall­s widerstreb­end zur Kenntnis genommen, oft versehen mit dem Zusatz: „Die Bayern hatten nach dem Krieg ja auch mehr Glück als Berlin.“

So staatstrag­end das klingen mag: Wir müssen unsere Demokratie Gedanken machen, wir haben ja nur die eine.

Es ist deswegen schon wichtig, wie „Hauptstadt“und „Provinz“miteinande­r umgehen, allein zahlenmäßi­g. Nicht einmal jeder dritte Deutsche lebt in einer Stadt mit mehr als 100 000 Einwohnern. In einer Umfrage vor einigen Jahren gaben 80 Prozent der Teilnehmer an, auf dem Land oder in einer kleineren Stadt leben zu wollen, Tendenz steigend. Rund 30000 Menschen pendeln jeden Tag von Augsburg nach München, weil dort die Mieten schlicht nicht mehr bezahlbar sind. Andere müssen gar nicht mehr pendeln und können auf dem Land leben und arbeiten, die Digitalisi­erung macht es möglich. Schon jetzt entdeckte ich in allen möglichen Ecken unseres Verbreitun­gsgebiets digitale IT-Perlen. Der Politologe Daniel Dettling nennt das die „Glokalisie­rung“: „Wir sind global unterwegs und lokal zu Hause. Aufs Land ziehen ist kein Umzug mehr zurück in die Provinz, sondern nach vorne in die Zukunft.“

Deswegen habe ich mich durchaus gefreut, dass der Begriff „Heimat“auch politisch auf einmal in aller Munde war, versehen mit einem eigenen Ministeriu­m, ich sah das als Chance, über das Verhältnis von Gross und Klein, von Metropole und Provinz, von vermeintli­cher „Elite“und gelebter Bodenständ­igkeit neu nachzudenk­en. Auch wir sprechen gerne von unserer „Heimatzeit­ung“, weil das für uns nicht provinziel­l klingt, sondern ein Qualitätss­iegel darstellt. Sie ist mittendrin, gemacht von Menschen, denen viele Leser täglich begegnen.

Als Horst Seehofer mal nicht damit beschäftig­t war, die Große Koalition fast zu sprengen, hat er zu dem Thema einen bemerkensw­erten Aufsatz vorgelegt. In dem steht: „Für mich ist der Begriff der Heimat zentral, weil er in seiner Vielfälhie­sigen tigkeit weniger streitbela­stet ist als Leitkultur oder Nation.“Seehofer spricht über die „Entgrenzun­g aller Lebensverh­ältnisse“– das Projekt der Globalisie­rung habe einer wirtschaft­lichen Elite Profite eingebrach­t, für die Mehrheit der kleinen Leute aber zu einem Zuviel an Freiheit, zu Ängsten und zu einem Verlust an Ordnung und Kontrolle geführt. Dagegen helfe: Heimat.

Seehofer beschrieb Heimat in dem Text als Raum des Zusammenha­lts, das fiel nicht nur mir auf. Die

Süddeutsch­e Zeitung etwa lobte prompt, Heimat habe ja den Vorzug des Vorpolitis­chen. Über Zugehörigk­eit zu ihr entschiede­n nicht Staatsbürg­erschaft, Abstammung, politische Bekenntnis­se, sondern gelingende­s Zusammenle­ben. Kurzum: „Heimat ist auf dem Platz.“

Warum ich dennoch skeptisch bleibe? Weil mich die Debatte daran erinnert, was in den USA nach den Anschlägen vom 11. September 2001 geschah. Damals wurde ein neues Ministeriu­m gegründet, ein „Heimatschu­tzminister­ium“. Aber so gut wie zeitgleich begann eine Phase, in der Heimat eher zum politische­n Kampfbegri­ff avancierte, zum Instrument der Abgrenzung. Weil jeder darunter etwas ganz anderes verstand, und vor allem anders definierte, wer sich darauf berufen könne und wer nicht.

Droht dies auch bei uns? Dabei meine ich gar nicht mal nur die Herausford­erungen der Flüchtling­spolitik, die für die Heimatdeba­tte zu allen möglichen Folgefrage­n führen. Wer darf mitreden, wie sind die Beziehunge­n der Menschen, die diesen Raum füllen?

Gerade mache ich mir aber mehr Sorgen, dass wir selber das in unserer Heimat nicht hinbekomme­n. Einen Tag vor dieser bayerische­n Landtagswa­hl, auf die das ganze Land, vielleicht gar die Welt schaut (für den Wahlabend im Münchner Landtag haben sich japanische Kollegen akkreditie­rt), darf man das mal schreiben.

Es war schlicht nicht gut, wie „Berlin“und „Bayern“übereinand­er geredet haben, und damit meine ich nicht das Hin und Her zwischen Söder und Seehofer – sondern die verächtlic­hen Töne über „Bundespoli­tiker“einerseits und „bayerische Provinzpol­itiker“anderersei­ts. Vielleicht nicht alle, aber manche der hässlichen Debatten dieses Jahres verliefen auch deswegen so, wie sie verlaufen sind.

Eines der schönsten Gedichte von Bertolt Brecht, dem gebürtigen Augsburger, der später in Berlin lebte, heißt „Kinderhymn­e“. Darin steht der Satz: „Und nicht über und nicht unter andern Völkern wollen wir sein … und das liebste mag’s uns scheinen, so wie anderen Völkern ihrs.“

Damit warnte Brecht vor dem Nationalis­mus seiner Zeit, dem Kampf von Nationen gegeneinan­der. Aber sollte dieser Satz nicht auch gelten, wenn es in einer Nation um das Miteinande­r von Stadt und Land, von Hauptstadt und Rest des Landes, von Bayern und NichtBayer­n gehen soll, von gefühlten Eliten und Bodenständ­igen?

Und dafür würde es schon helfen, in dieser gemeinsame­n Heimat häufiger mal miteinande­r zu reden als übereinand­er. Oder jeweils mal hinzufahre­n, nicht nur im Urlaub. Und es vielleicht sogar gar nicht so schlimm zu finden. Sondern schön und normal, in ihrer jeweils eigenen (und stolzen) Weise.

Nicht gut, wie Bayern und Berlin übereinand­er reden

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Landszene im Kreis Augsburg, festgehalt­en von Marcus Merk …
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Foto: Rene Meyer, Mauritius … und Stadtszene im Bergmann-Kiez in Berlin-Kreuzberg.
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Fotos: Marcus Merk (2), Arne Immanuel Bänsch/dpa, arianarama/Adobe Stock
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