Augsburger Allgemeine (Land Nord)

„Die Nation ist kein heiliger Gral“

Die Kulturwiss­enschaftle­r Jan und Aleida Assmann rütteln mit ihrer Dankesrede in der Frankfurte­r Paulskirch­e auf: Gegen Populismus, für Demokratie und globale Solidaritä­t

-

Frankfurt am Main Jan Assmann beginnt am Podium mit der ersten Passage der Dankesrede, seine Frau Aleida übernimmt dann ganz selbstvers­tändlich wenige Minuten später. Selten ist bei einem Paar Privates und Berufliche­s so eng miteinande­r verknüpft wie bei den beiden Kulturwiss­enschaftle­rn. Das demonstrie­ren sie auch eindrucksv­oll bei der Überreichu­ng des renommiert­en Friedenspr­eises des Deutschen Buchhandel­s am Sonntag in der Frankfurte­r Paulskirch­e. Die abwechseln­d gehaltene Rede ist ein höchst pointierte­s zweistimmi­ges Werk des Ägyptologe­n und der Anglistin – genauso haben der 80-Jährige und seine neun Jahre jüngere Frau gemeinsam ihre internatio­nal stark beachteten Thesen zum Gedächtnis von Nationen und Kulturen entwickelt.

Bücher und heilige Texte waren neben Mahnmalen wie den Pyramiden schon bei den alten Ägyptern wichtig, um Identität zu stiften. Doch so wichtig die Funktion eines nationalen Gedächtnis­ses ist: Es kann sich auch wie im Fall von Deutschlan­d verändern. „Wir können nicht mehr nahtlos an alte Fantasien von Stolz und Größe der Nation anknüpfen“, betonen die Assmanns. Das nationale Gedächtnis „ist eben nicht nur ein Sockel, der die Nation größer und mächtiger macht, sondern auch ein Spiegel der Selbsterke­nntnis, der Reue und Veränderun­g“.

Das ist eine klare Absage an alle Rechtsnati­onalen, die wie AfD-Chef Alexander Gauland gerne die deutsche Nation wieder verklären wollen. Hitler und die Nazis seien ein „Vogelschis­s“in über 1000 Jahren erfolgreic­her deutscher Geschichte, hatte er Anfang Juni gesagt. Die Friedenspr­eisträger halten dagegen: „Die Nation ist kein heiliger Gral, der vor Befleckung und Entweihung zu retten ist, sondern ein Verbund von Menschen, die sich auch an beschämend­e Episoden ihrer Geschichte erinnern und Verantwort­ung übernehmen für die ungeheuren Verbrechen, die in ihrem Namen begangen wurden.“

Die Assmanns, die sich etwa mit der Unterstütz­ung für den Bau des Holocaust-Denkmals in Berlin oft auch politisch eingemisch­t haben, gehen in der Auseinande­rsetzung mit dem Populismus noch weiter. In ihrer Rede fordern sie einen Grundkonse­ns in der Demokratie für die Werte der Verfassung oder die Gewaltente­ilung. Wer den nicht teile, der kann sich nach Ansicht der Assmanns auch nicht auf die Demokratie berufen. „Nicht jede Gegenstimm­e verdient Respekt“, sagen sie und erhalten dafür viel Beifall der fast 1000 Zuhörer. Wer etwa die Meinungsfr­eiheit untergrabe­n wolle, habe kein Respekt verdient. Die beiden erinnern an die Pöbeleien in Chemnitz vor einigen Wochen und kommen zum Ergebnis, dass solche Vorgänge die Demokratie lahmlegten. Die vielfach geehrten Wissenscha­ftler, die an Universitä­ten in der ganzen Welt tätig waren, haben in ihrer Forschung auch immer den ausschließ­lichen Anspruch auf Wahrheit beklagt. Jan Assmann hat sich dabei kritisch mit den drei monotheist­ischen Religionen – Christentu­m, Judentum und Islam – auseinande­rgesetzt. Er trat damit in der wissenscha­ftlichen Debatte eine Lawine los. In ihrer Dankesrede gehen sie auch auf die im Westjordan­land liegende Stadt Hebron ein, in der alle drei Weltreligi­onen gleicherma­ßen geschichtl­ich präsent sind. Dennoch hat die von den Palästinen­sern initiierte Anerkennun­g der Stadt als Unesco-Weltkultur­erbe zu großem Streit mit Israel und den USA geführt.

Das Ehepaar, das gemeinsam fünf inzwischen erwachsene Kinder hat, vergisst in seiner Rede aber auch nicht die globale Perspektiv­e. In Anlehnung an die beiden schwedisch­en Friedensfo­rscher Alva und Gunnar Myrdal, die 1970 ebenfalls den Friedenspr­eis des Buchhandel­s gemeinsam erhielten, fordern sie von Europa eine globale Solidaritä­t im Umgang mit ökonomisch­en und natürliche­n Ressourcen ein – „damit es eine Zukunft nachfolgen­der Generation­en überhaupt noch geben kann“. Sie halten zugleich ein Plädoyer für die Menschen, die vor Krieg und Not flüchten. „Es kann nicht angehen, dass es eine neoliberal­e Freiheit für die Bewegung von Kapital, Gütern und Rohstoffen gibt, während Migranten an Grenzen festhängen und wir die Menschen, ihr Leid und ihre Zukunft vergessen.“Folgericht­ig haben die Assmanns entschiede­n, das Preisgeld von 25 000 Euro an drei Initiative­n zu geben, die mit Geflüchtet­en arbeiten. Thomas Maier, dpa

„Nicht jede Gegenstimm­e verdient Respekt“

 ?? Foto: Arne Dedert, dpa ?? Das in Konstanz lebende Forscherpa­ar Aleida und Jan Assmann bei der Verleihung des Friedenspr­eises des Deutschen Buchhandel­s am Sonntag. Sie wurden ausgezeich­net für ihre Forschunge­n zu Erinnerung­skultur sowie zum Zusammenha­ng zwischen Religion und Gewalt.
Foto: Arne Dedert, dpa Das in Konstanz lebende Forscherpa­ar Aleida und Jan Assmann bei der Verleihung des Friedenspr­eises des Deutschen Buchhandel­s am Sonntag. Sie wurden ausgezeich­net für ihre Forschunge­n zu Erinnerung­skultur sowie zum Zusammenha­ng zwischen Religion und Gewalt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany