Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Wie der Tüchertanz kranken Kindern hilft

Beim Tag der offenen Tür in der Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie im Josefinum erhalten Interessie­rte Einblicke in die Einrichtun­g und Therapie. Chefärztin Prof. Michele Noterdaeme spricht von einer steigenden Anzahl an Diagnosen

- VON ELENA WINTERHALT­ER

Die Gruppe junger Leute steht in einem Kreis mitten im Raum. Dann setzt die Musik ein. Alle lassen die bunten Tücher, die Tanztherap­eutin Petra Schweizer verteilt hat, durch die Luft sausen. „Eine Form, wie wir das Gemeinscha­ftsgefühl in einer Gruppe stärken“, erklärt Schweizer. Beim Tag der offenen Tür in der Klinik für Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie und -psychother­apie im Josefinum bekommen Interessie­rte so einen Einblick in verschiede­ne Therapiefo­rmen. Nach dem Tüchertanz packt die Therapeuti­n Gummischwe­rt und Schild aus. Natürlich wird nicht richtig gekämpft. „So nähern wir uns Gefühlen wie Aggression und Wut“, sagt sie. „Kinder und Jugendlich­e, die beispielsw­eise an Depression leiden, können diese Emotionen nicht einfach zeigen.“

Laut einer Studie des RobertKoch-Instituts sind etwa 16 Prozent der Kinder und Jugendlich­en in Deutschlan­d psychisch auffällig. Die steigende Zahl an Diagnosen erklärt Chefärztin Prof. Dr. Michele Noterdaeme mit zwei Entwicklun­gen: „Zum einen haben sich in den letzten Jahren die Diagnosen stark verbessert. Zum anderen sind Eltern und Lehrer wesentlich sensibler geworden, wenn es um die psychische Gesundheit geht.“Es sei längst Normalität geworden, sich bei psychische­n Auffälligk­eiten Hilfe zu holen.

Silvia Richter arbeitet an der Montessori-Schule Augsburg unter anderem in der pädagogisc­hen Beratung. Auch sie hat täglich mit dem Thema zu tun. „An der Schule geht es natürlich oft um ADHS oder das Zappelphil­ipp-Syndrom. Ich habe schon das Gefühl, dass wesentlich mehr Kinder auffällige­s Verhalten zeigen als früher.“

Zum Tag der offenen Tür ist sie gekommen, um sich einen Überblick zu verschaffe­n, wen man ansprechen kann, um den Eltern und vor allem den Kindern beratend zur Seite zu stehen.

Ein Trend, den auch Prof. Noterdaeme beobachtet. „Schulen sind für uns ein wesentlich­er Kooperatio­nspartner. Das war bei Störungen wie ADHS schon länger so, da die betroffene­n Kinder dazu neigen, das Umfeld zu stören.“Mittlerwei­le stellt die Chefärztin aber auch eine erhöhte Sensibilit­ät für die „leisen“ Störungen fest. Erste Alarmzeich­en könnten anhaltende­s weinerlich­es oder ängstliche­s Verhalten sein, viele Fehltage oder ständige Müdigkeit. Für das vergangene Jahr verzeichne­t das Josefinum 66000 Behandlung­en von Kindern und Jugendlich­en.

Dass viele junge Menschen Hilfe brauchen, liege, laut Prof. Noterdaeme, auch an den veränderte­n gesellscha­ftlichen Strukturen: „Die genetische Belastung hat sich nicht wesentlich verändert. Aber gerade familiäre Strukturen sind nicht mehr so belastbar.“Hinzu komme ein gesteigert­er Leistungsd­ruck in der Gesellscha­ft, der vor Kindern nicht halt mache.

Aber nicht erst im Schulalter treten psychische Auffälligk­eiten auf. In der Säuglingsa­mbulanz werden Babys in den ersten Lebensmona­ten behandelt. Beispielsw­eise, wenn sie sich beim Schreien nicht mehr beruhigen. „Probleme treten sehr früh auf. Je schneller sie behandelt werden, desto besser“, sagt die Chefärztin. Und rät Eltern, sich auf ihr Bauchgefüh­l zu verlassen. „Man kann das sehr gut mit Fieber vergleiche­n. Fieber gehört bei vielen Infekten dazu. Aber wenn es eine gewisse Höhe erreicht hat, geht man zum Arzt.“

Stellt man als Eltern also eine plötzliche Änderung im Verhalten des Kindes fest, oder wirkt es besonders zurückgezo­gen und geht nicht mehr aus dem Haus, sollte man sich auf die Intuition verlassen. „Es ist besser, zu kommen und wieder weggeschic­kt zu werden, als etwas Entscheide­ndes zu verpassen“, sagt Prof. Noterdaeme.

 ?? Foto: Peter Fastl ?? Durch den Tüchertanz wird bei Kindern und Jugendlich­en das Gemeinscha­ftsgefühl in einer Gruppe gestärkt. Es kommen auch Gummischwe­rter zum Einsatz. Sie sollen helfen, Aggression­en abzubauen.
Foto: Peter Fastl Durch den Tüchertanz wird bei Kindern und Jugendlich­en das Gemeinscha­ftsgefühl in einer Gruppe gestärkt. Es kommen auch Gummischwe­rter zum Einsatz. Sie sollen helfen, Aggression­en abzubauen.

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