Augsburger Allgemeine (Land Nord)
„Das Smartphone macht die Kinder krank“
Der Ulmer Hirnforscher Manfred Spitzer warnt vor Suchtgefahren, zu wenig Bewegung und Schlaf. Was der Arzt den Eltern dringend rät und warum er die digitale mit der Tabaklobby in einen Topf wirft
Ab wann ist man krankhaft smartphonesüchtig, Herr Professor Spitzer? Prof. Manfred Spitzer: Eine Sucht liegt prinzipiell vor, wenn man etwas nicht lassen kann, obgleich es einem schadet; wenn man mit Anspannung, Gereiztheit, Angst, Aggressivität reagiert, sobald man von einem Verhalten abgehalten wird. Und dieses Verhalten zerstört das Leben, indem es etwa die sozialen Kontakte kaputt macht, die Beziehung, den Job gefährdet. Zudem sind Veränderungen im Gehirn zu beobachten.
Kann man nicht sagen, ab wie vielen Stunden am Tag es riskant wird? Spitzer: Nein, entscheidend ist, wie beeinträchtigt das normale Leben ist.
Aber kaum einer wird doch von sich behaupten: Ich bin smartphonesüchtig? Spitzer: Das ist das Problem vieler Suchterkrankungen. Nur wenige Betroffene erkennen rechtzeitig, wie abhängig sie sind, und gehen zum Arzt. Die Computer- und Internetsucht ist mittlerweile von der Weltgesundheitsorganisation WHO anerkannt. Viele Menschen geben zumindest selbst zu, Schwierigkeiten zu haben, das Smartphone wegzulegen. Selbst Kinder sind da schon ehrlich. So hat eine große Mannheimer Studie ergeben, dass von 500 befragten Kindern im Alter von acht bis 14 Jahren acht Prozent im Risikobereich lagen oder bereits süchtig sind. Auf einem Suchtkongress kürzlich hat sich aber ein ganz anderes Problem ergeben: Während die Zahl der Internet- und Smartphonesüchtigen massiv steigt, haben wir in Deutschland nur etwa 200 Behandlungsplätze gerade für junge Patienten. Glaubt man der Suchtbeauftragten der Bundesregierung, so geht es um zehntausende Betroffene, sodass hier ein großes Missverhältnis herrscht, das dringend gelöst werden muss.
Was richtet das Smartphone in uns an? Spitzer: In der medizinischen Fachliteratur nachgewiesen sind Ängste, Aufmerksamkeitsstörungen, Depression, Bewegungsmangel, Übergewicht, Haltungsschäden, ein verstärktes Suchtverhalten – im Übrigen auch, was Tabak und Alkohol angeht. Durch die Nutzung von sogenannten Geosocial Networking Apps kommt es zudem zu mehr Gelegenheitssex, was die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten verstärkt. Smartphones sind zudem bei jüngeren Verkehrsteilnehmern Unfallursache Nummer eins.
Bewegungsmangel ist nachvollziehbar, aber Sie warnen auch davor, dass Smartphones Diabetes auslösen. Wie kann das denn überhaupt sein? Spitzer: Es ist erwiesen, dass die Nutzung von Smartphones den Schlaf deutlich beeinträchtigt. Lehrer klagen, dass Schüler viel müder sind. Insbesondere schauen über 90 Prozent der jungen Leute abends kurz vor dem Schlafengehen auf ihr Handy und schlafen ein bis zwei Stunden weniger. Schlafmangel erhöht aber eindeutig das Diabetesrisiko, was man noch gar nicht so lange weiß. Auch den Mechanismus kennt man noch nicht vollständig. Fest steht aber: Diabetes erhöht wiederum das Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall.
Sie warnen vor allem vor den digitalen Gefahren für Kinder.
Spitzer: Weil Kinder und Jugendliche von nahezu allen Risiken und Nebenwirkungen des Smartphones stärker betroffen sind als Erwachsene. Störungen der Sprachentwicklung, der Aufmerksamkeit, des Lernens und der Motivation bis hin zur Willensbildung sind allesamt vor allem bei jungen Menschen anzutreffen. In diesem Alter befindet sich das Gehirn noch in Entwicklung, und genau diese normale Gehirnentwicklung wird durch das Smartphone gestört. Manche Schäden sind irreparabel.
Welche?
Spitzer: Kurzsichtigkeit zum Beispiel. Die Augen sind Teil des Gehirns. Sie wachsen, bis sie scharf sehen. Diese Entwicklung geht bis ins junge Erwachsenenalter hinein. Wenn man nun in jungen Jahren sehr viel in die Nähe schaut, werden die Augen angeregt, in die Länge zu wachsen – die Folge ist Kurzsichtigkeit. Davon sind in Europa 30 Prozent aller jungen Menschen betroffen, in China 80 Prozent und in Südkorea über 90 Prozent.
Es gibt aber auch viele GesundheitsApps, die zu mehr Bewegung anregen, und viele Krankheiten lassen sich digital unterstützt leichter behandeln. Spitzer: Von über 25000 überprüften Gesundheits-Apps geben über 90 Prozent die Daten der Nutzer ungefiltert weiter, ohne die Nutzer überhaupt zu fragen. Die Weltgesundheitsorganisation hat vor den Sicherheitslücken gewarnt. Wenn in der Medizin ein neues Medikament auf den Markt kommt, muss die Wirksamkeit nachgewiesen sein. Zu Recht. Für Gesundheits-Apps gilt dies aber nicht. Und auch in der Bildung muss dieser Nachweis aus unerfindlichen Gründen nicht erbracht werden.
Sie kämpfen massiv gegen den Einzug digitaler Medien in den Schulen ... Spitzer: Ja, aus gutem Grund: Es gibt Studien, die deutlich zeigen, dass die Schüler durch den Einsatz digitaler Medien im Unterricht schlechter und unaufmerksamer werden. Zudem werden die Computer während des Unterrichts für fachfremde Tätigkeiten, etwa Videos schauen oder chatten, genutzt. Einmal angenommen, man würde die Studien zu Computern im Unterricht bei der deutschen Gesundheitsbehörde als „Therapie gegen Dummheit“einreichen, würde die Beurteilung der Datenlage ganz klar Folgendes ergeben: Die Wirksamkeit ist nicht nachgewiesen, viele Nebenwirkungen dagegen treten ganz klar auf. Eine Ablehnung wäre die Folge. Warum sind wir in der Pädagogik so nachlässig? Sind unsere Kinder unwichtiger als unsere Gesundheit?
Aber wo, wenn nicht in der Schule, ist ein besserer Ort, Medienkompetenz zu erlernen?
Spitzer: Medienkompetenz gibt es nicht. Was heißt das überhaupt?
Ein sorgsamer Umgang mit digitalen Medien.
Spitzer: Aber das wollen Kinder doch genau nicht.
Daher müssen sie es unbedingt lernen. Spitzer: Nein. Digitale Medien erzeugen Sucht und schaden der Gehirnentwicklung der Kinder und Jugendlichen. Daraus zu folgern, dass wir ihnen so früh wie möglich den Umgang mit digitalen Medien beibringen müssen, ist falsch! Wir machen doch auch kein Alkoholkompetenztraining in Kindergärten und Grundschulen. Von Alkohol wissen wir auch, dass er der Gehirnentwicklung schadet und Sucht erzeugt. Daher halten wir Kinder und Jugendliche davon so lange fern, bis sie so weit stabil sind und sich in der Regel – das klappt nicht bei allen, das weiß ich als Psychiater – selbst kontrollieren können. Das ist ab dem 18. Lebensjahr.
Heißt das, Sie würden das Smartphone auch erst ab 18 erlauben? Spitzer: So ist es, ohne Aufsicht erst ab 18.
Aber ist das nicht realitätsfern? So gut wie jeder trägt eines mit sich herum ... Spitzer: Während meiner Schulzeit war das Rauchen an Schulen nicht wegzudenken. Über Jahrzehnte hat es eine reiche Lobby geschafft, uns einzureden, Zigaretten mit Freiheit und Abenteuer zu verbinden. Die gesundheitlichen Folgen wurden verharmlost. Dies hat allein in Deutschland über einen Zeitraum von etwa 50 Jahren für 140000 Tote pro Jahr gesorgt! Ein besseres Beispiel, was Lobbyarbeit anrichten kann, gibt es gar nicht. Und ich kann Ihnen versichern, der Einfluss und vor allem die Finanzkraft der digitalen Lobby sind um ein Vielfaches größer als bei jeder anderen Lobby – schließlich handelt es sich um die reichsten und mächtigsten Firmen der Welt.
Aber auch vor diesem Hintergrund ist doch das Erlernen des verantwortungsvollen Umgangs mit digitalen Medien umso wichtiger. Mit Verboten werden Smartphones doch noch interessanter. Spitzer: Seit etwa zehn Jahren sind Smartphones in unserem Alltag. Keiner, weltweit keiner, hat sich um die Folgen dieses massenhaften Einsatzes auf unsere Gesundheit, auf die Entwicklung unserer Kinder gekümmert. Im Gegenteil: In den Schulen werden Milliarden für digitale Medien ausgegeben. Sogar das Grundgesetz soll verändert werden, damit den Ländern die Bildungshoheit vom Bund genommen werden kann, um sie an kalifornische superreiche Firmen wie Apple, Microsoft, Google und Co. weiterzugeben. Das ist ein Skandal! Denn diesen Firmen geht es nicht um Bildung, sondern einzig und allein um ihren Profit. Profitorientierte Firmen steuern unser Leben. Bis ins intimste Detail. Das lassen wir zu.
Sie selbst sind Vater von sechs Kindern. Haben Ihre Kinder kein Smartphone?
Spitzer: Fünf meiner Kinder sind erwachsen, meine jüngste Tochter Anna ist neun Jahre alt und hat kein Smartphone. Ich werde ständig von Eltern um Rat gebeten, und ich sage immer wieder: Erstens, was Sie Ihrem Kind nicht kaufen oder schenken, müssen Sie ihm später auch nicht wegnehmen oder verbieten. Das ist die wichtigste Regel für Eltern. Zweitens: Ein Smartphone ist der Zugang zum größten Rotlichtmilieu und größten KriminellenTreffpunkt der Welt. Wenn mich Eltern fragen, ab welchem Alter ich zu einem Smartphone rate, sage ich stets: Ab wann würden Sie Ihr Kind ohne Begleitung ins Rotlichtmilieu oder zu Kriminellen lassen? Dann fangen viele Eltern an, nachzudenken. Und das ist gut so.
Viele Eltern fürchten aber, dass ihr Kind ohne Handy ausgegrenzt wird. Spitzer: Auch auf dieses Problem werde ich oft angesprochen: „Alle haben ein Smartphone, und wer keines hat, ist ausgegrenzt“, so das Argument. Es gibt aber Fälle, wo die Eltern aller Kinder einer Klasse sich absprechen und den Kindern kein Smartphone in die Schule mitgeben. Dann entfällt der Hauptgrund „alle anderen haben eines“, und die Kinder reden wieder miteinander, sind sozial zufriedener und lernen besser. Es ist nachgewiesen, dass die soziale Zufriedenheit zunimmt, wenn Facebook und Co. abgeschaltet werden.
Aber auch in der Ausbildung, im Beruf, ist die Digitalisierung längst Realität. Digitale Kompetenzen werden von jungen Leuten erwartet.
Spitzer: Ausbilder wollen vor allem klare Köpfe, gute Sprache, Motivation, soziale Kompetenzen, Kreativität, Einfühlungsvermögen, Engagement und einen guten Umgangston. Digitale Medien beeinträchtigen die Entwicklung von alldem. Und die Ausbilder von Berufsschülern bemerken dies mit großer Sorge. Kenntnisse im praktischen Umgang mit digitaler Informationstechnik lernt ein junger, aufgeschlossener Mensch leicht dazu.
Sie wurden kürzlich von der AfD gefragt, ob Sie an einer Enquete-Kommission als Experte teilnehmen, die sich mit den beruflichen Herausforderungen beschäftigt. Für viele Ihrer Kritiker passte diese Nähe zur AfD.
Spitzer: Aber das stimmt einfach nicht. Erstens habe ich abgelehnt, und zweitens teile ich in keiner Weise die Ansichten der AfD.
Auch in der Wissenschaft haben Sie viele Kritiker, die Ihnen vorwerfen, dass Sie digitale Medien zu pauschal verteufeln und in Studien nur das hervorheben, was zu Ihren Thesen passt. Spitzer: Die sollten dann einmal sagen, worauf sie sich genau beziehen. Diese Leute machen pauschal Vorwürfe, die nicht zutreffen, wohingegen ich mich bei allem, was ich beschreibe, auf Quellen beziehe, die ich auch nenne. Diese Vorwürfe gibt es seit langem, und ich bin ihnen schon mehrfach und deutlich begegnet. Sie sind nicht haltbar. Aber es ist leider so unglaublich leicht, unhaltbare Vorwürfe pauschal öffentlich zu erheben.
Auf der Hand aber liegt doch, dass Smartphone und Internet Senioren, gerade, wenn sie nicht mehr so mobil sind, wirklich viele Vorteile bringen ... Spitzer: Auch hier wird viel versprochen, wo Fakten fehlen. Aber wenn es eine Personengruppe gibt, die unter dem Strich vom Smartphone profitieren kann, dann sind das tatsächlich Rentner. Ich sage es mal salopp: In ihren Gehirnen lässt sich nichts mehr kaputt machen, weil diese Menschen in ihrer Jugend ja alle Möglichkeiten hatten, ihre kognitiven und sozialen Fähigkeiten zu entwickeln.
Interview: Daniela Hungbaur
Manfred Spitzer, 60, ist Psychiater und Gehirnforscher und arbeitet als Ärztlicher Direktor an der Uniklinik Ulm. Er ist auch Autor zahlreicher Bücher; sein neuestes trägt den Titel: „Die Smartphone-Epidemie“.
„Manche Schäden sind irreparabel.“