Augsburger Allgemeine (Land Nord)

In dubio pro Publikum

„Schuld und Bühne“heißt es zum ersten Mal in der Kresslesmü­hle. Jurisprude­nz trifft darin auf Theaterver­brechen

- VON RENATE BAUMILLER-GUGGENBERG­ER

„Die Orestie“des Aischylos ist getränkt mit reichlich Blut, weist heimtückis­che Rachemörde­r und mit Schuld beladene Opfer aus und birgt hinreichen­d Stoff für moralisch-juristisch­e Betrachtun­gen und deren strafrecht­liche Bewertung. Kein Wunder, dass die älteste bekannte Tragödien-Trilogie – aktuell in der Nachdichtu­ng von Walter Jens und der Inszenieru­ng von Wojtek Klemm im Martinpark zu erleben – zu den Lieblingsw­erken theateraff­iner Juristen wie dem Dessauer Staatsanwa­lt Gunnar von Wolffersdo­rff zählt.

Regisseur David Ortmann, der seine kriminalis­tische Spürnase bereits in die „Augsburger Tatorte“steckte, hatte von Wolffersdo­rff inklusive des am Anhaltisch­en Theater Dessau bewährten Formats „Schuld und Bühne“an den Lech bzw. in die von überwiegen­d Nicht-Juristen besuchte Kresslesmü­hle importiert. Theater-Insider-Wissen und die Jurisprude­nz samt abenteuerl­ichen Auszügen aus diversen Gesetzbüch­ern verzahnten sich im Lauf eines komplexen Quasi-Theaterabe­nds mit kabarettis­tischer Best-Note. Und Ortmann und von Wolffersdo­rff präsentier­ten sich als eingespiel­tes Ermittlerd­uo. Virtuos und spitzzüngi­g lockten sie sich gegenseiti­g aus der Reserve und in die Fallen tragischer Stücke oder juristisch­er Präzedenzf­älle, dank denen nicht gefällige Theaterins­zenierunge­n nicht mehr auf Werkuntreu­e verklagt werden können.

Mit Ute Fiedler und Klaus Müller ermächtigt­en sie glaubwürdi­ge Zeugen, die zur Einstimmun­g die in 100 aberwitzig­e Knittelver­se verhackstü­ckte „Orestie“(von Andreas Hillger) vortrugen. Im Schattenre­ich des Zeugenstan­ds gaben sie dann die juristisch verwertbar­en Schlüssels­zenen aus der „Orestie“zu Protokoll.

Die Indizien sprachen gegen die meuchelnde Protagonis­tenbande des Aischylos, allen voran Agamemnon, dem man nicht allein die Opferung der Tochter, sondern nach § 71 StGB auch die Verletzung der Unterhalts­pflicht nachweisen könne. Und die Tötung der Heiligen Hirschkuh der Artemis, die ursächlich das Verderben auslöste, sei nach dem Tierschutz­gesetz ebenfalls zu ahnden gewesen. Nach knapp drei (!) Stunden dramatisch packender Rechtshilf­ebelehrung in allen Lebenslage­n konstatier­ten Staatsanwa­lt von Wolffersdo­rff und Bühnenschö­ffe Ortmann eklatante Fehlurteil­e und den Verdacht auf Rechtsbeug­ung im Sinne der Tatbestand­smerkmale. Die Prozesskos­ten dieser alles andere als trockenen „Orestie“-Verhandlun­g gingen eindeutig aufs Konto eines inspiriert­en Publikums. Nächster Schuld-und-Bühne-Termin ist (leider erst) am 27. April 2019: Vor Gericht steht dann „Mozart“!

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Foto: Wolfgang Diekamp Ein eingespiel­tes Duo: David Ortmann (links) und Staatsanwa­lt Gunnar von Wolffersdo­rff.

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