Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Opa Willi war ein Mitläufer
Wie kann man verstehen, wer man ist, wenn man nicht weiß, woher man kommt? Die Illustratorin Nora Krug erzählt deutsche Geschichte am Beispiel ihrer Familie. Ein beeindruckendes Bilderbuch für Erwachsene
Heimat ist ein Wort, das meist im Singular verwendet wird. „Kein Plural“, stand in der Brockhaus Enzyklopädie, die Nora Krug zurate zog, als sie über ihrem Buchprojekt saß. Krug, 41 Jahre alt, eine vielfach ausgezeichnete Illustratorin, stammt aus Karlsruhe. Zu Hause aber ist sie in New York, dort lebt sie mit ihrem Mann, einem Amerikaner aus jüdischer Familie, und ihrer kleinen Tochter im karibischen Viertel von Brooklyn. Sie arbeitet als Professorin an der renommierten Parsons The New School for Design.
Nora Krug hat sich also längst eingelebt in der Fremde. Wenn sie zu ihren Eltern nach Deutschland fährt, merkt sie, dass sie hier nicht mehr so richtig reinpasst. Und dennoch! Sie sei eine „heimwehkranke Auswanderin“, schreibt sie in ihrem eindrucksvollen Buch „Heimat“– und zwar eine, die sich nach zwölf Jahren in den USA deutscher fühlt als je zuvor. Die zum Beispiel Hansaplast, Wärmeflaschen und dunkles Brot zu preisen weiß, mittlerweile auch Gefallen an Römergläsern und Kuckucksuhren finden kann. Die aber auch nach all den Jahren immer wieder versucht, ihren deutschen Akzent zu verbergen. Und deren Verunsicherung weiter wächst, wenn ihr auf einer Party unbekannte Menschen mitteilen, dass sie niemals ins Land der Hunnen und Nazis reisen würden... Im Ausland werde man mit seinem Deutschsein viel stärker konfrontiert als jemand, der in seinem Heimatland lebe, hat Nora Krug erfahren: Und auch mit der Schuld.
Was also tun mit diesem Deutschsein, mit diesem diffusen Heimatgefühl? Und was tun mit der Sprachlosigkeit, die sie im Ausland befällt, wenn sie nach ihrer Herkunft gefragt wird? „Wie kann man verstehen, wer man ist, wenn man nicht weiß, woher man kommt“, fragt sich Nora Krug. Ihre Suche nach Antworten kann man nun in einem Buch verfolgen, das sich jeder Einordnung entzieht, im Bücherherbst als Solitär heraussticht.
Es ist ein Memoir, ein Bilderbuch, eine Collage – komponiert aus Zeichnungen, Comic-Elementen, Fotografien, alten Briefen, Schul- heften, Dokumenten und Text. „Ein deutsches Familienalbum“, wie es Krug im Untertitel nennt.
Zwei Menschen sind es, die bei ihrer Spurensuche in den Mittelpunkt rücken. Der Onkel FranzKarl Krug, mit 18 Jahren auf einem Schlachtfeld in Italien gestorben, von dem ihr Vater seinen Namen erbte. Und Großvater Willi Rock, der bei einem jüdischen Textilhändler als Chauffeur arbeitete und später in Karlsruhe eine Fahrschule übernahm – womöglich dank einer großzügigen Gabe des einstigen Arbeitgebers.
„Mein Onkel war für mich wie ein Fremder. Ich kannte niemanden, der ihn gekannt hatte“, schreibt Krug. In der Schublade bei ihren Eltern aber lagern seine Schul- Bilder: Nora Krug/Penguin hefte, fein verziert mit Hakenkreuzen, darin eine Geschichte mit dem Titel „Der Jude, ein Giftpilz“. Er sei mit 12 Jahren zu jung gewesen, um die Nazi-Propaganda zu verstehen, überlegt sich nun die Nichte. Aber in einer Stadt wie Külsheim, in der sich die Kinder aller Konfessionen kannten, sei er dennoch alt genug gewesen, „um zu wissen, dass Juden keine Giftpilze sind“.
So arbeitet sich Nora Krug durch die Schichten der Familien- und Zeitgeschichte, entkleidet sie sorgfältig von Mythen und Verharmlosungen, liebevoll, voller Empathie, aber eben auch unbeirrbar in ihren Fragen. Und so legt sie Wahrheiten frei. Krug reiste dafür in ihre Heimat, suchte alte Verwandte, Zeitzeugen und Heimatforscher auf, studierte Akten, Dokumente, Briefe, Tagebücher, sah alte Filme, stöberte auf Flohmärkten und bekam auch Einblick in die Militärakte ihres Großvaters Willi.
Was hatte er im Krieg getan? War er in der Partei? „Ich bin überzeugt, dass Willi kein Täter war“, sagt ihre Mutter: „Er war in Sachen Politik kein Fanatiker.“Die Nachforschungen im Landesarchiv von Karlsruhe ergeben aber: Eingetreten in die NSDAP 1933. „Meine Mutter und meine Tante hatten sich geirrt.“Im Nachkriegsfragebogen der US-Militärs stehen fünf Optionen zur Verfügung: Hauptschuldiger, Belasteter, Minderbelasteter, Mitläufer, Entlasteter. Willi wählte Mitläufer. „Das Wort, mit dem er sich zu seiner eigenen Charakterschwäche bekennt, in seiner Handschrift auf dem Papier geschrieben zu sehen, erzeugt eine Nähe, die mich beklommen macht“, schreibt Nora Krug. Sie findet auch die Erklärung ihres Großvaters: Er sei in die NSDAP eingetreten, weil ihm sonst der Erwerb der Fahrschule nicht möglich gewesen wäre. „Vielleicht hätte es andere Optionen gegeben“, rätselt die Enkelin.
Es ist eine unspektakuläre Geschichte, die Nora Krug spektakulär gut erzählt. Zu Beginn, erklärt sie in einem Interview, habe sie große Selbstzweifel gehabt, ob sie – als Enkelin von Mitläufern – überhaupt eine Geschichte zum Krieg erzählen könne beziehungsweise dürfe. Bei der Arbeit am Buch sei ihr dann aber bewusst geworden, dass sie genau das interessiert: „Die Mitläufer, diejenigen, die sich praktisch in der Grauzone des Krieges befinden, weil man deren Schuld beziehungsweise Unschuld viel schwieriger nachweisen kann.“
Und nun? Was bedeutet für sie Heimat? Noch immer könne sie den Begriff nicht wirklich definieren. Es stehe ein unsichtbares Fragezeichen hinter dem Wort. Was sie nun aber beantworten kann, wenn sie in ihrer
Ein Solitär im deutschen Bücherherbst 2018
Wie steht es mit der eigenen Familie?
neuen Heimat gefragt wird, das ist, was es über ihre Familie zu erzählen gibt, was die Krugs aus Külsheim und die Rocks aus Karlsruhe mit dem Krieg zu tun hatten. Für den Leser freilich stellt sich die Frage drängender denn je: Wie steht es mit der eigenen Familie? Krug würde es freuen, wenn ihr Buch andere dazu anregen würde, sich die Geschichte der Eltern und Großeltern genauer anzusehen.
In „Heimat“listet sie auch einen kleinen „Katalog deutscher Dinge“auf: Leitz-Ordner, Uhu, Gallseife… Über Hansaplast schreibt sie: „Es ist das hartnäckigste Pflaster auf der Welt, und wenn man es abzieht, um die Narbe zu betrachten, die einem geblieben ist, schmerzt es.“