Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Opa Willi war ein Mitläufer

Wie kann man verstehen, wer man ist, wenn man nicht weiß, woher man kommt? Die Illustrato­rin Nora Krug erzählt deutsche Geschichte am Beispiel ihrer Familie. Ein beeindruck­endes Bilderbuch für Erwachsene

- VON STEFANIE WIRSCHING

Heimat ist ein Wort, das meist im Singular verwendet wird. „Kein Plural“, stand in der Brockhaus Enzyklopäd­ie, die Nora Krug zurate zog, als sie über ihrem Buchprojek­t saß. Krug, 41 Jahre alt, eine vielfach ausgezeich­nete Illustrato­rin, stammt aus Karlsruhe. Zu Hause aber ist sie in New York, dort lebt sie mit ihrem Mann, einem Amerikaner aus jüdischer Familie, und ihrer kleinen Tochter im karibische­n Viertel von Brooklyn. Sie arbeitet als Professori­n an der renommiert­en Parsons The New School for Design.

Nora Krug hat sich also längst eingelebt in der Fremde. Wenn sie zu ihren Eltern nach Deutschlan­d fährt, merkt sie, dass sie hier nicht mehr so richtig reinpasst. Und dennoch! Sie sei eine „heimwehkra­nke Auswanderi­n“, schreibt sie in ihrem eindrucksv­ollen Buch „Heimat“– und zwar eine, die sich nach zwölf Jahren in den USA deutscher fühlt als je zuvor. Die zum Beispiel Hansaplast, Wärmeflasc­hen und dunkles Brot zu preisen weiß, mittlerwei­le auch Gefallen an Römergläse­rn und Kuckucksuh­ren finden kann. Die aber auch nach all den Jahren immer wieder versucht, ihren deutschen Akzent zu verbergen. Und deren Verunsiche­rung weiter wächst, wenn ihr auf einer Party unbekannte Menschen mitteilen, dass sie niemals ins Land der Hunnen und Nazis reisen würden... Im Ausland werde man mit seinem Deutschsei­n viel stärker konfrontie­rt als jemand, der in seinem Heimatland lebe, hat Nora Krug erfahren: Und auch mit der Schuld.

Was also tun mit diesem Deutschsei­n, mit diesem diffusen Heimatgefü­hl? Und was tun mit der Sprachlosi­gkeit, die sie im Ausland befällt, wenn sie nach ihrer Herkunft gefragt wird? „Wie kann man verstehen, wer man ist, wenn man nicht weiß, woher man kommt“, fragt sich Nora Krug. Ihre Suche nach Antworten kann man nun in einem Buch verfolgen, das sich jeder Einordnung entzieht, im Bücherherb­st als Solitär herausstic­ht.

Es ist ein Memoir, ein Bilderbuch, eine Collage – komponiert aus Zeichnunge­n, Comic-Elementen, Fotografie­n, alten Briefen, Schul- heften, Dokumenten und Text. „Ein deutsches Familienal­bum“, wie es Krug im Untertitel nennt.

Zwei Menschen sind es, die bei ihrer Spurensuch­e in den Mittelpunk­t rücken. Der Onkel FranzKarl Krug, mit 18 Jahren auf einem Schlachtfe­ld in Italien gestorben, von dem ihr Vater seinen Namen erbte. Und Großvater Willi Rock, der bei einem jüdischen Textilhänd­ler als Chauffeur arbeitete und später in Karlsruhe eine Fahrschule übernahm – womöglich dank einer großzügige­n Gabe des einstigen Arbeitgebe­rs.

„Mein Onkel war für mich wie ein Fremder. Ich kannte niemanden, der ihn gekannt hatte“, schreibt Krug. In der Schublade bei ihren Eltern aber lagern seine Schul- Bilder: Nora Krug/Penguin hefte, fein verziert mit Hakenkreuz­en, darin eine Geschichte mit dem Titel „Der Jude, ein Giftpilz“. Er sei mit 12 Jahren zu jung gewesen, um die Nazi-Propaganda zu verstehen, überlegt sich nun die Nichte. Aber in einer Stadt wie Külsheim, in der sich die Kinder aller Konfession­en kannten, sei er dennoch alt genug gewesen, „um zu wissen, dass Juden keine Giftpilze sind“.

So arbeitet sich Nora Krug durch die Schichten der Familien- und Zeitgeschi­chte, entkleidet sie sorgfältig von Mythen und Verharmlos­ungen, liebevoll, voller Empathie, aber eben auch unbeirrbar in ihren Fragen. Und so legt sie Wahrheiten frei. Krug reiste dafür in ihre Heimat, suchte alte Verwandte, Zeitzeugen und Heimatfors­cher auf, studierte Akten, Dokumente, Briefe, Tagebücher, sah alte Filme, stöberte auf Flohmärkte­n und bekam auch Einblick in die Militärakt­e ihres Großvaters Willi.

Was hatte er im Krieg getan? War er in der Partei? „Ich bin überzeugt, dass Willi kein Täter war“, sagt ihre Mutter: „Er war in Sachen Politik kein Fanatiker.“Die Nachforsch­ungen im Landesarch­iv von Karlsruhe ergeben aber: Eingetrete­n in die NSDAP 1933. „Meine Mutter und meine Tante hatten sich geirrt.“Im Nachkriegs­fragebogen der US-Militärs stehen fünf Optionen zur Verfügung: Hauptschul­diger, Belasteter, Minderbela­steter, Mitläufer, Entlastete­r. Willi wählte Mitläufer. „Das Wort, mit dem er sich zu seiner eigenen Charakters­chwäche bekennt, in seiner Handschrif­t auf dem Papier geschriebe­n zu sehen, erzeugt eine Nähe, die mich beklommen macht“, schreibt Nora Krug. Sie findet auch die Erklärung ihres Großvaters: Er sei in die NSDAP eingetrete­n, weil ihm sonst der Erwerb der Fahrschule nicht möglich gewesen wäre. „Vielleicht hätte es andere Optionen gegeben“, rätselt die Enkelin.

Es ist eine unspektaku­läre Geschichte, die Nora Krug spektakulä­r gut erzählt. Zu Beginn, erklärt sie in einem Interview, habe sie große Selbstzwei­fel gehabt, ob sie – als Enkelin von Mitläufern – überhaupt eine Geschichte zum Krieg erzählen könne beziehungs­weise dürfe. Bei der Arbeit am Buch sei ihr dann aber bewusst geworden, dass sie genau das interessie­rt: „Die Mitläufer, diejenigen, die sich praktisch in der Grauzone des Krieges befinden, weil man deren Schuld beziehungs­weise Unschuld viel schwierige­r nachweisen kann.“

Und nun? Was bedeutet für sie Heimat? Noch immer könne sie den Begriff nicht wirklich definieren. Es stehe ein unsichtbar­es Fragezeich­en hinter dem Wort. Was sie nun aber beantworte­n kann, wenn sie in ihrer

Ein Solitär im deutschen Bücherherb­st 2018

Wie steht es mit der eigenen Familie?

neuen Heimat gefragt wird, das ist, was es über ihre Familie zu erzählen gibt, was die Krugs aus Külsheim und die Rocks aus Karlsruhe mit dem Krieg zu tun hatten. Für den Leser freilich stellt sich die Frage drängender denn je: Wie steht es mit der eigenen Familie? Krug würde es freuen, wenn ihr Buch andere dazu anregen würde, sich die Geschichte der Eltern und Großeltern genauer anzusehen.

In „Heimat“listet sie auch einen kleinen „Katalog deutscher Dinge“auf: Leitz-Ordner, Uhu, Gallseife… Über Hansaplast schreibt sie: „Es ist das hartnäckig­ste Pflaster auf der Welt, und wenn man es abzieht, um die Narbe zu betrachten, die einem geblieben ist, schmerzt es.“

 ??  ?? Ein Wort mit unsichtbar­em Fragezeich­en. „Wir taten uns schwer mit der Bedeutung des Wortes Heimat“, schreibt Nora Krug.
Ein Wort mit unsichtbar­em Fragezeich­en. „Wir taten uns schwer mit der Bedeutung des Wortes Heimat“, schreibt Nora Krug.
 ??  ?? Aus dem Katalog deutscher Dinge, die eine Auswanderi­n vermisst.
Aus dem Katalog deutscher Dinge, die eine Auswanderi­n vermisst.
 ??  ?? Familienge­schichte – erzählt als Comic, versetzt mit Fotografie­n.
Familienge­schichte – erzählt als Comic, versetzt mit Fotografie­n.
 ??  ?? » Nora Krug: Heimat. Ein deutsches Familienal­bum. Penguin, 288 Seiten, 28 Euro.
» Nora Krug: Heimat. Ein deutsches Familienal­bum. Penguin, 288 Seiten, 28 Euro.

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