Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Das Erbe der toten Brüder
Es ist der große Streitpunkt in den Brexit-Verhandlungen: Was wird aus der Grenze zwischen Irland und Nordirland? Die Menschen haben Angst, dass die blutige Vergangenheit zurückkehrt. Denn sie wissen, wie schwer es ist, Frieden zu finden
Newry Wo soll diese Geschichte beginnen? Jene vom blutigen Konflikt in Nordirland, die wohl nie auserzählt sein wird und auch nicht sein kann, wo der Bürgerkrieg so viele Opfer gefordert hat; die keinen wirklichen Anfang kennt und selbst 20 Jahre nach dem Karfreitagsabkommen von ihrem Ende weit entfernt ist; die seit Jahrzehnten von Leid und Gewalt und bestenfalls Versöhnungsversuchen bestimmt wird. Wo der Frieden heute auf dem Papier steht, aber längst nicht in allen Köpfen verinnerlicht ist und nun die Narben aufzureißen scheinen angesichts des nahenden Brexits. Wo also soll diese Geschichte beginnen?
Bei einer Tasse Tee, findet Eugene Reavey. Der Farmer lädt in sein Haus im Dörfchen Whitecross nahe der Grenze zu Irland, setzt den Wasserkessel auf und sich dann an den Holztisch. Er ist ein Besessener – von der Vergangenheit, die bis an sein Lebensende seine Gegenwart bleiben soll. Vor ihm liegen Zeitungsartikel, Gerichtsdokumente, Gutachten, Ordner. Sie quellen über vor Geschichten. Und sie beginnen alle kurz nach sechs am Sonntagabend des 4. Januar 1976.
Der 24-jährige John Martin Reavey sowie seine Brüder Brian, 22, und Anthony, 17, saßen zu Hause vor dem Fernseher, ihre LieblingsSpielshow hatte gerade angefangen. Die restliche Familie war auf dem Weg zur Tante. Plötzlich stürmten vier schwer bewaffnete Maskierte ins Wohnzimmer. 43 Maschinengewehr-Schüsse durchsiebten John Martin. 17 Mal trafen die Mörder Brian in den Rücken. Die Brüder wurden hingerichtet, weil sie katholisch waren. Anthony kroch schwer verletzt den kleinen Hügel zum Nachbarn hinauf, zwei Wochen später starb auch er.
42 Jahre später weist Eugene zur Stelle des Elternhauses nur wenige Meter von seiner Farm entfernt. Heute wohnt sein Bruder Oliver dort, der die Leichen damals entdeckte und in der Folge ein Jahr lang verstummte. „Zu traumatisiert“, sagt Eugene und führt dann zum kleinen Friedhof, wo die Toten beerdigt sind. Mindestens ein Mal pro Woche kommt er her, betet und erzählt den Brüdern von dem, was sie liebten – Gaelic Football, eine Mischung aus Rugby und Fußball. Wie hat der lokale Klub gespielt? Wer ist vom Platz geflogen? Solche Dinge.
„Sie waren unschuldige Zivilisten, hatten wie die ganze Familie weder was mit Politik noch mit der IRA am Hut“, sagt der 70-Jährige wie zu sich selbst und blickt dann in den grauen Himmel. Mit einem Tuch streicht er über die Schwarz-Weiß-Fotos der jungen Männer, wischt die Regentropfen ab und pflückt Laub vom Grab, als würde er Fusseln von ihren Jacketts zupfen.
In der Grafschaft Armagh, wo heute herbstliche Idylle herrscht, gehörten Tote zum Alltag. Es war eine der am schlimmsten von der Gewalt im Würgegriff gehaltenen Gegenden während der „Troubles“, wie sowohl Briten als auch Iren den Konflikt bemerkenswert beschönigend nennen. Als wäre ein Guerillakrieg, der in 30 Jahren mehr als 3500 Menschen das Leben gekostet hat, lediglich ein bisschen „Ärger“. Die protestantischen Loyalisten, die im Zeichen der Krone das Königreich verteidigten, standen den katholisch-irischen Republikanern entgegen, die ein wiedervereinigtes Irland anstrebten. Die Paramilitärs der IRA (Irisch-Katholische Armee) und der Loyalisten wie der Ulster Volunteer Force (UVF) oder der Ulster Defence Association (UDA) töteten wahllos, kopflos.
Wachtürme, Kasernen und Zäune dominierten damals das Bild in den Grenzregionen. Im nahen Bessbrook am Rande der Grenzstadt Newry lag einer der bedeutendsten Militärstützpunkte der britischen Armee. Einst durchschnitt die Anlage wie ein stählernes Riesenbeil die Landschaft, nun grasen Schafe und Kühe auf den Wiesen. Heute prahlt die Gegend auf einem Schild zu Recht mit „außergewöhnlicher Schönheit“. Steinerne Brücken führen im Süden von Armagh über einen Bach, dahinter beginnt Irland. Die Grenze ist längst unsichtbar geworden. Allein die Schilder geben die Geschwindigkeit statt in britischen Meilen in Stundenkilometern an. Seit dem Brexit-Votum aber sprechen wieder alle über die künftige Außengrenze zwischen dem EUMitgliedstaat, der Republik Irland, und dem zum Königreich gehörenden Nordirland.
Der „Backstop“, die Rückfallversicherung für den nördlichen Landesteil, soll nach dem Willen der EU gewährleisten, dass es nach der Scheidung keine harte Grenze gibt, um den Friedensprozess nicht zu gefährden. Die Situation ist verfahren. Brüssel wünscht einen Sonderstatus für die Region, bis eine langfristige Lösung gefunden wird. London beharrt darauf, dass das Provisorium ein festes Enddatum haben muss.
Am 29. März 2019 treten die Briten aus der EU aus. Mit dem Verbleib in der Zollunion und im Binnenmarkt wäre die nördliche Provinz jedoch weiter eng an das EURegelwerk gebunden. Die nordirische, erzkonservative DUP, auf deren Stimmen die Minderheitsregierung von Premierministerin Theresa May angewiesen ist, lehnt diesen Entwurf kategorisch ab, weil dann Kontrollen zwischen Nordirland und dem übrigen Königreich die Folge wären. Keine Sonderlösung, keine Spaltung des Landes fordern die EU-Skeptiker der DUP und reden von einer „blutroten Linie“.
Am Ende könnte die ganze Verhandlungsgeschichte an der knapp 500 Kilometer langen Grenze scheitern und die Briten ohne Austrittsabkommen die EU verlassen. In diesem Fall fürchten viele beidseits der Grenze die Rückkehr der blutigen Vergangenheit. Der frühere irische Premierminister John Bruton wirbt dieser Tage in London für den Back- stop und sagt: „Wir, die kleinen Nachbarn, müssen mit den Folgen des Brexits leben.“Er hat die „Troubles“erlebt, die Toten gesehen und den mühsamen Friedensprozess begleitet. Bruton möchte dieses Erbe nicht gefährdet sehen durch ignorante Ideologen in Westminster.
Die Mörder der Reavey-Brüder sollen der Glenanne-Gang angehören, einer geheimen, informellen Gruppe von Ulster-Loyalisten, die in den 70er Jahren Schießereien und Bombenangriffe gegen Katholiken und irische Nationalisten durchführten. Einige wohnen bis heute in der Gegend. Keiner wurde je zur Rechenschaft gezogen, geschweige denn verurteilt, sagt Reavey. Er kämpft seit mehr als 40 Jahren um Aufklärung und eine unabhängige Untersuchung. „Das waren Morde auf britischem Boden von britischen Sicherheitskräften mit dem Zweck, die Gewalt eskalieren zu lassen“, sagt er. Die Mörder seien vom Staat geschützt worden. „In England gibt es ein faires System. Gerechtigkeit in Nordirland ist eine völlig andere Sache.“Manchmal sieht er ehemalige Gang-Mitglieder an seinem Haus vorbeifahren. Er stockt kurz, klopft sich mit der Hand auf die linke Brust, als wolle er damit den Schmerz lösen. „Es ist nicht einfach.“
Ein Stück weiter auf der Landstraße steht ein Mahnmal. Es erinnert an das Kingsmill-Massaker, bei dem einen Tag nach der Ermordung der Reavey-Brüder zehn Arbeiter auf ihrem Heimweg aus ihrem Minibus gezerrt, in einer Reihe aufgestellt und von republikanischen Untergrundkämpfern erschossen wurden. Protestantische Zufallsopfer. So einfach war das damals. „Ein dreckiger Krieg“, sagt Eugene Reavey.
Dieser Krieg hat ein kollektives Trauma hinterlassen, das zu tief sitzt, als dass ein Karfreitagsabkommen vom April 1998 Frieden befehlen könnte. Bis nicht jede Geschichte erzählt, nicht jeder Täter zur Verantwortung gezogen wird, kommt hier kaum jemand zur Ruhe. Das liegt nicht nur daran, dass die Paramilitärs, die Terror-Gangs beider Seiten, noch immer aktiv sind. Wenn der konservative Abgeordnete Johnny Mercer behaupten darf, man müsse die Vergangenheit ruhen lassen und aufhören mit „der Hexenjagd auf verdiente Veteranen“, klingt das wie Hohn für Reavey.
Nur, wie kann Versöhnung funktionieren? Es gehe um Gerechtigkeit und Wahrheit, sagt Stephen Travers. „Das eine bedingt das andere.“Travers gehörte in den 70er Jahren zu den bekanntesten Bassisten auf der irischen Insel. Dann „fiel der Vorhang“, wie er es nennt. In jener Nacht, als die gefeierte „Miami Showband“, eine Gruppe aus Protestanten und Katholiken, auf dem Weg nach Irland von britischen Soldaten angehalten wurde. Routinekontrolle. Kurz darauf flog der Van in die Luft. Doch statt der Musiker starben die Bombenleger der probritischen UDR. Eigentlich wollten diese den Sprengkörper im Bus der Band platzieren, um die Grenze dichtmachen zu können und die irische Regierung dazu zu bringen, mehr Sicherheit im Süden zu installieren. „Sie wollten uns als Terroristen, als Täter darstellen“, sagt Travers. „Das wurde von hohen britischen Streitkräften durchgeführt.“
Der Ire wurde durch die Luft und die Böschung hinabgeschleudert, wie in Zeitlupe habe er den Augenblick empfunden. Dann fielen Schüsse. Sänger Fran O’Toole wurde 20 Mal getroffen, sein Gesicht von 17 Schüssen zerfetzt. Kugeln durchsiebten auch Tony Geraghty und Brian McCoy. Stephen Travers, damals 24 Jahre alt, überlebte. Auch wenn in diesem Fall zum ersten Mal ein Schuldspruch wegen Mordes gegen ein Mitglied der Sicherheitskräfte gesprochen wurde – die Nacht verfolgt Travers bis heute.
Vor einigen Jahren haben er und Eugene Reavey eine Initiative gegründet, die Überlebende beider Seiten zusammenbringt. „Wir wollen, dass die Menschen den Frieden wertschätzen, vor allem jetzt“, sagt Travers. Jetzt, in Brexit-Zeiten. Eine harte Grenze, glauben sie, würde die Gewalt zurückbringen, den Schmuggel. „Bauern an der Grenze sagen ganz offen: Hängen die Behörden eine Kamera auf, schießen wir auf die Kamera. Stellen sie eine Person in einer Uniform an die Grenze, schießen wir auf sie.“
Und damit würde eine ganz neue Geschichte beginnen.
Brian treffen 17 Schüsse, bei John Martin sind es 43 Zehn Arbeiter wurden aus dem Bus gezerrt und getötet