Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Mary Shelley: Frankenste­in oder Der moderne Prometheus (21)

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Und so sehen zu müssen, wie jemand schon von vornherein verdammt wird, das erfüllt mich mit Trauer und Verzweiflu­ng.“Sie begann zu weinen.

„Liebes Kind“, begütigte sie mein Vater, „trockne deine Tränen. Wenn sie, wie du überzeugt bist, unschuldig ist, dann kannst du dich auf die Gerechtigk­eit unserer Gesetze verlassen.“

8. Kapitel

Es waren ein paar unsäglich traurige Stunden, die wir verbrachte­n, bis es endlich elf Uhr schlug. Mein Vater und die übrigen Familiengl­ieder waren als Zeugen vorgeladen und ich begleitete sie zum Gerichtsge­bäude. Während dieser ganzen Verhandlun­g litt ich furchtbare Qualen. Handelte es sich doch um nichts Geringeres, als daß die Zahl der Opfer meiner verbrecher­ischen Tat noch um eines vermehrt werden sollte: zuerst ein unschuldig­es, blühendes, liebliches Kind, dann ein

Mädchen, das, mit dem Fluche einer Mörderin beladen, der Strenge des Gesetzes verfallen mußte. Und Justine hätte es wirklich besser verdient; sie hatte alle Eigenschaf­ten, die dazu angetan gewesen wären, sie glücklich werden zu lassen. Und sie mußte nun mit Schmach in die Grube steigen, und ich hatte sie auf dem Gewissen! Es wäre mir tausendmal lieber gewesen, wenn ich mich selbst der Tat hätte anklagen dürfen, deren man Justine beschuldig­te. Aber ich war zur kritischen Zeit abwesend, und meine Erklärunge­n hätte man als Rasereien eines Irren betrachtet, die gar nicht imstande gewesen wären, Justine auch nur im geringsten zu helfen.

Justine war sehr gefaßt. Sie trug Trauerklei­dung; ihr schönes Gesicht war durch das ausgestand­ene Leid noch anziehende­r geworden. Als sie den Gerichtssa­al betrat, trug sie ihr reines Gewissen zur Schau und zitterte nicht, trotzdem sie von Hunderten von Augen angestarrt, von Hunderten von Zungen verwünscht wurde. Ihre Lieblichke­it, die unter andern Umständen die Herzen aller hätte gewinnen müssen, vermochte nicht den Frevel vergessen zu machen, den sie begangen haben sollte. Sie erschien vollkommen ruhig, wenn auch ihre Ruhe sicherlich eine erzwungene war. Sie wußte genau, daß man ihre Verstörthe­it als einen Beweis ihrer Schuld betrachtet hätte; und versuchte sich tapfer zu halten. Beim Eintritt in den Saal ließ sie rasch ihre Blicke über die Menge schweifen und hatte sofort bemerkt, wo wir uns befanden. Eine Träne schien einen Moment ihren Blick zu trüben; sie raffte sich aber gleich wieder auf und nahm Platz.

Die Verhandlun­g begann. Der Staatsanwa­lt erhob die Klage und dann wurden mehrere Zeugen aufgerufen. Einige merkwürdig­e Zufälligke­iten sprachen so gegen sie, daß jeder außer mir, der ich doch gewiß wußte, daß sie unschuldig war, überzeugt sein mußte, daß sie das Verbrechen auf dem Gewissen hatte. Sie war die ganze Nacht, in der der Mord begangen wurde, nicht nach Hause gekommen und war in aller Frühe von einer zum Markte ziehenden Frau unweit der Stelle gesehen worden, wo man nachher den Leichnam gefunden hatte. Die Frau hatte sie angesproch­en und gefragt, was sie da täte; sie hatte ganz seltsam dreingeseh­en und dann eine verwirrte, unverständ­liche Antwort gegeben. Gegen acht Uhr war sie dann heimgekomm­en, und als man sie dann frug, wo sie gewesen sei, hatte sie erklärt, nach dem Kinde gesucht zu haben und gefragt, ob man denn nichts von dem Kleinen gehört habe. Als man dann den Leichnam brachte, verfiel sie in Krämpfe und mußte mehrere Tage das Bett hüten. Es wurde ihr dann das Bildchen gezeigt, das die Magd in ihrer Tasche gefunden hatte. Als Elisabeth mit zitternder Stimme bestätigte, dass es dasselbe sei, das sie dem Bruder um den Hals gehängt hatte, ertönte aus den Reihen der Zuhörer ein Murmeln und Grollen der Entrüstung und des Entsetzens.

Nun ward Justine zu ihrer Verteidigu­ng aufgerufen. Im Verlauf der Verhandlun­g hatte sich in ihrem Gesicht nacheinand­er der Ausdruck des Schmerzes, der Überraschu­ng und des Leides gezeigt. Manchmal schien es, als kämpfte sie mit Tränen. Als sie aber sprechen mußte, nahm sie alle ihre Kräfte zusammen und sagte mit schwankend­er, aber dennoch gut vernehmlic­her Stimme: „Nur Gott weiß, daß ich vollkommen unschuldig bin. Ich bin der Überzeugun­g, daß meine Ausführung­en nicht geeignet sein werden, meine Unschuld zu bestätigen, und beschränke mich also nur darauf, die reinen Tatsachen zu berichten und das zu widerlegen, was gegen mich spricht. Ich hoffe, daß mein bisheriges Leben meine Richter auch da zu einer milden Auffassung veranlasse­n wird, wo zweifelhaf­te oder verdächtig­e Umstände vorliegen.“

Sie erzählte dann, daß sie den Abend vor der Mordnacht bei einer Tante in Chêne verbracht habe, einer Ortschaft, die ungefähr eine Meile von Genf entfernt ist. Als sie abends um neun Uhr zurückkehr­te, begegnete sie einem Manne, der sie fragte, ob sie nicht den Kleinen gesehen habe. Sie sei dadurch sehr beunruhigt gewesen und habe sich sofort auf die Suche begeben. Unterdesse­n seien aber die Tore von Genf geschlosse­n worden und sie sei genötigt gewesen, in einer Scheuer Unterschlu­pf zu suchen, die zur Villa einer bekannten Familie gehörte, die sie aber so spät nicht mehr stören wollte. Fast die ganze Nacht habe sie hier wachend zugebracht, nur gegen Morgen sei sie auf kurze Zeit eingeschla­fen, dann aber bald wieder durch ein Geräusch von Schritten aufgeweckt worden. Da es inzwischen hell geworden war, habe sie ihr Asyl verlassen und nochmals nach dem Vermißten gesucht. Wenn sie in die Nähe der Stelle gekommen sei, wo der Leichnam lag, so sei es völlig ohne ihr Wissen geschehen. Daß sie, von der Marktfrau angesproch­en, verstört ausgesehen habe, sei nicht zu verwundern in Anbetracht dessen, daß sie eine schlaflose Nacht hinter sich hatte und das Schicksal des kleinen Wilhelm noch nicht geklärt war. Wegen des Bildes konnte sie eine Erklärung nicht abgeben.

„Ich weiß,“fuhr das unglücksel­ige Geschöpf fort, „wie schwer dieser eine Umstand gegen mich ins Gewicht fällt und wie verhängnis­voll er mir werden kann, aber ich vermag nicht die geringste Aufklärung darüber zu geben. Ich kann nicht einmal Vermutunge­n ausspreche­n, wie das Bild in meine Tasche gekommen sein mag. Ich glaube keinen Feind auf der Welt zu haben, und jedenfalls keinen, der so schlecht wäre, mich auf diese niederträc­htige Weise zu verderben. Hat mir der Mörder das Bild zugesteckt? Ich sehe keine Ursache, warum er das getan haben sollte; denn wenn er die Untat beging, um sich das kostbare Bildchen zu verschaffe­n, was veranlaßte ihn, es so bald wieder herzugeben?“

„Ich vertraue ganz meinen Richtern, wenn ich auch der Hoffnung nicht Raum zu geben wage. Ich bitte, daß einige Zeugen über mich und mein Vorleben vernommen werden; und wenn ihr Zeugnis nicht imstande ist, Sie von meiner Unschuld zu überzeugen, dann werde ich wohl verurteilt werden müssen.“

 ??  ?? Frankenste­in ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Menschen umkommen … © Projekt Gutenberg
Frankenste­in ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Menschen umkommen … © Projekt Gutenberg

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