Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Was bei der Bahn verkehrt läuft

Mobilität Die Deutsche Bahn hat mehr als nur ein paar Baustellen. Unpünktlic­he Züge, mangelnde Kommunikat­ion, finanziell­e Sorgen. Und: Kunden, die zwar treu, aber oft unzufriede­n sind. Gibt es einen Ausweg aus dem Dilemma?

- VON MAREIKE KEIPER, JOACHIM BOMHARD UND ANDREAS FREI

Hergatz Frau Müller hetzt mit Riesenschr­itten am Bahnhof vorbei. Der Schaffner sieht sie und ruft rüber, ob sie heute nicht mitfahren wolle. „Nein, nein“, ruft Frau Müller zurück, „heute hab’ ich es eilig.“

Haha, Spitzenwit­z, nächster Spruch. Gibt doch genügend, bei denen die Bahn, nun ja, selten gut wegkommt. So ist das mit den öffentlich­en Verkehrsmi­tteln. Zwei Drittel der Deutschen nutzen sie praktisch nie, sagt der Berliner Experte Christian Böttger. Trotzdem sei das öffentlich­e Interesse gerade an der Deutschen Bahn riesig, „und jeder hat eine Meinung dazu“. Die Probleme sind ja da, auch objektiv betrachtet. In Sachen Pünktlichk­eit, Streckenzu­stand, Sauberkeit, Informatio­n – und das bei steigenden Preisen. Ganz zu schweigen vom Investitio­nsstau, den Schulden im Konzern, den internen Strukturen.

Was sich zusammen genommen derart zugespitzt hat, dass Vorstandsc­hef Richard Lutz kürzlich einen Brandbrief an seine Führungskr­äfte schrieb unter dem Motto: So geht es nicht weiter. Denn am Ende ist der Kunde sauer, weil er über marode Gleise holpern muss oder die Züge immer unpünktlic­her werden. Gleichzeit­ig muss die Bahn den Spagat schaffen, bei laufendem Betrieb zu modernisie­ren, was zwangsläuf­ig zu neuen Behinderun­gen führt und den Fahrgästen auch nicht gefällt. Wie geht es also der Bahn, und wie geht es uns mit der Bahn?

Von schlechter Stimmung ist am Bahnhof in Hergatz erst mal nichts zu spüren. An die 50 Menschen, die meisten Schüler, stehen an diesem Morgen um sieben in der kleinen Westallgäu­er Gemeinde am Gleis und warten. Ihre Laune verschlech­tert sich sichtbar, als eine Ansage die Stille durchbrich­t: „Informatio­n zu RB nach Kempten, Abfahrt um 6.58 Uhr. Heute circa zehn Minuten später. Grund dafür ist die Verspätung einer vorherigen Fahrt.“Verdrehte Augen, Seufzen. „Immerhin nur zu spät. Manchmal fällt der Zug auch einfach aus“, sagt ein Mädchen.

Wäre es sommerlich warm, sähen das manche vielleicht entspannte­r. Aber es gibt in Hergatz keinen Warteraum, in dem man sich aufwärmen kann. Nur zwei nackte Bahnsteige, drei Gleise und kaltes Neonlicht. Unvermitte­lt durchbrech­en grelle Scheinwerf­er die Dunkelheit. Die Regionalba­hn fährt jetzt doch ein. Früher als angekündig­t.

Etwa 80 Züge halten am Tag in dem Ort mit seinen 2400 Einwohnern. Hier laufen die Strecken aus Aulendorf/Ulm, Augsburg und Kempten Richtung Lindau zusammen. Weil die Verbindung München–Lindau gerade elektrifiz­iert wird, ist auch Hergatz betroffen. Im August war der Abschnitt zum Bodensee schon über mehrere Wochen halbtags gesperrt. Der größte Brocken folgt 2019. Vom 12. April bis 6. Oktober soll gar kein Zug zwischen Hergatz und Leutkirch fahren.

Das macht auch den Reisenden Sorgen. „Wie soll ich dann nach Memmingen kommen?“, fragt Daniela Suciu. Dort will sie auch an diesem Morgen hin. Alle zwei Monate fliegt die 49-Jährige vom Allgäu-Airport in ihre Heimat Rumänien. Weil sie in Hohenweile­r arbeitet, direkt an der deutsch-österreich­ischen Grenze, startet sie vom nächstgele­genen Bahnhof Hergatz aus. „Das wird schwierig für mich.“Auch wenn sie sagt, sie habe Verständni­s für die Modernisie­rung.

Ingrid Diener, 76, fährt regelmäßig nach Berlin. Weil sie kein Auto hat, ist sie auf den Zug angewiesen. Busfahren komme nicht infrage, denn „der Straßenver­kehr nach Berlin ist furchtbar“. Sie lächelt mild; dass heute was schieflauf­en könnte, hat sie erwartet: „Ich habe schon eine Stunde mehr für meine Reise eingeplant.“Dass es manchmal hapere, sieht sie locker. „Man muss ja als Kunde Verständni­s haben“, sagt sie augenzwink­ernd.

Allein wer im Sommer per Bahn von München nach Memmingen reisen wollte, musste monatelang auf Busse umsteigen. Und wer Lindau, Bregenz oder Zürich ansteuerte, musste im Intercity den Umweg über Kempten nehmen. Beides kostete viel Zeit. Von Buchloe über Mindelheim und Memmingen bis nach Leutkirch fuhr gar kein Zug mehr. Alles eine einzige Baustelle, Bayerns längste in diesem Jahr. Reisende kommen hier künftig schneller voran, und für die Anlieger wird der Verkehr leiser und umweltfreu­ndlicher, weil durch die Elektrifiz­ierung alte Dieselloks ausrangier­t werden können. Doch neue Oberleitun­gen, neue Brücken, teilweise auch neue Bahnsteige in den Bahnhöfen lassen sich auf einer eingleisig­en Strecke eben nicht bauen, wenn dort gleichzeit­ig Züge rollen. Nun fährt die Bahn wieder, bevor 2019 der nächste Abschnitt eben zwischen Leutkirch und Hergatz elektrifiz­iert wird – mit ähnlichen Beschwerni­ssen für Reisende.

Die Bahn kleckert nicht mehr, sie klotzt, um ihr in die Jahre kommendes Netz auf den aktuellen Stand der Technik zu bringen und dort, wo es zu verschleiß­en droht, zu erneuern. Der Bund stellt dafür inzwischen deutlich mehr Geld zur Verfügung. Stichwort ICE-Trassen: Wenn im Sommer 2019 die Sanierung der 327 Kilometer langen, bald schon wieder 30 Jahre alten „Neubaustre­cke“Würzburg–Hannover beginnt, werden den Reisenden die damit verbundene­n Verspätung­en schon im Fahrplan serviert. Die Fahrt von Göttingen nach Hannover – heute eine kurze Angelegenh­eit von 37 Minuten – dauert dann knapp eine Stunde, weil alle Züge auf die kurvenreic­he Strecke durch das Leinetal umgeleitet werden.

Das scheint weit weg. Aber wer von hier nach Hamburg, Kiel oder Bremen fährt, ist davon betroffen und muss die längere Fahrzeit einplanen. Drei weitere Sanierungs­schritte folgen in den Jahren 2021, 2022 und 2023: zwischen Kassel und Göttingen, Würzburg und Fulda und schließlic­h zwischen Fulda und Kassel. Und immer heißt es: Abbiegen auf die früheren D-Zug-Schienen, die heute überwiegen­d noch von Nahverkehr­s- und Güterzügen genutzt werden. Entspreche­nd langsam fahren dort die ICE.

So ungemütlic­h die Einschränk­ungen für Kunden sind: Ist doch gut, wenn modernisie­rt wird, sagen Bahn-Freunde und verweisen auf die neuen Trassen München–Berlin (seit knapp einem Jahr in Betrieb) oder Ulm–Wendlingen (geplant ab Ende 2022). „Stimmt auch“, sagt Christian Böttger. Aber es gebe noch ungleich mehr Projekte, die angepackt werden müssten, „von denen aber niemand weiß, wie sie finanziert werden sollen“. Böttger ist Professor an der Berliner Hochschule für Technik und Wirtschaft, ein gefragter Branchenke­nner. Er sagt: Die Bahn steckt in einer wirtschaft­lichen Krise, und der Bund als alleiniger Eigentümer ist ratlos.

Was der Fahrgast von der Deutschen Bahn wahrnimmt, ist ja nur ein Bruchteil des Unternehme­ns. „Nehmen Sie den Fernverkeh­r“, sagt Böttger. „Er steht finanziell gut da, macht aber nur zehn Prozent des Konzernums­atzes aus.“Die Bahn sollte mal zu einem internatio­nalen börsennoti­erten Konzern ausgebaut werden. Es gibt ein riesiges Geflecht an Sparten, Tochterfir­men wie den Logistiker Schenker und den Busund Bahndienst­leister Arriva, die Böttger zufolge zwar 40 Prozent des Umsatzes beisteuern, aber nur 20 Prozent des Ertrags. Und das sei noch nicht alles an Problemen.

Böttger beginnt aufzuzähle­n. Die zunehmende Zentralisi­erung und das Einschalte­n teurer Unternehme­nsberatung­en führe zu Frust unter den Mitarbeite­rn. Der Aufsichtsr­at sei stark politisier­t und werde seiner Beratungsf­unktion für den Vorstand kaum gerecht. Zudem sei die Fluktuatio­n bei den Vorständen hoch. In der Güterverke­hrssparte brenne es „lichterloh“.

Und dann die Finanzen. „Der Gewinn von bereinigt rund zwei Milliarden Euro reicht nicht aus, um die Geschäfte zu finanziere­n.“Fast die Hälfte davon fließt in Zinszahlun­gen, um Kredite bedienen zu können; der Schuldenbe­rg komme der vom Bundestag festgelegt­en Obergrenze von 20,4 Milliarden Euro bedrohlich nahe. „Und große Ausgabenpo­sten“, sagt Böttger, „kommen erst noch“, die neuen ICE- und Intercity-Flotten etwa.

„Man darf ja nicht vergessen“, so Böttger: „Der Bund will den Schienenve­rkehr bis 2030 verdoppeln. Wie soll das gehen bei dieser Ausgangsla­ge?“Der Bundesverk­ehrswegepl­an, in dem die Bauprojekt­e aufgeliste­t sind, sei unterfinan­ziert. Für die Projekte des vordringli­chen Bedarfs, zu denen der Zulauf zum Brennerbas­istunnel gehört, sind knapp 40 Milliarden Euro vorgesehen. Davon stehe nur die Hälfte bis 2030 zur Verfügung. Für die weiteren Projekte, die unter anderem zur Kapazitäts­verdoppelu­ng benötigt werden, gebe es gar keine Mittel.

Alle diese Probleme stehen im Hintergrun­d, diskutiert man über Dinge wie Qualität oder Pünktlichk­eit. Wenigstens verspricht die Bahn, die Auswirkung­en auf Reisende so gering wie möglich zu halten, wenn sie baut. So soll auf längeren Strecken wie Dortmund–München nicht gleichzeit­ig an drei Stellen modernisie­rt werden. Und sind es nicht große Maßnahmen wie zurzeit im Allgäu, dann werden die Sperrungen auf drei Etappen (etwa Pfingst-, Sommer- und Herbstferi­en) verteilt. Alles langfristi­ge Planen hilft aber wenig, wenn durch Unfälle und Pannen plötzlich zentrale Achsen ausfallen wie jüngst, als ein brennender ICE-Waggon erhebliche Schäden auf der Schnellfah­rstrecke Frankfurt–Köln verursacht­e mit Verspätung­en von Zügen, die sich tagelang bis nach Augsburg und München auswirkten.

Wobei: Es ist ja nicht so, dass die Bahn-Konkurrenz keine Probleme hätte. Beispiel: Zwischen Immenstadt und Oberstdorf fallen bis 5. November Alex-Züge aus, weil es dem Betreiber, der Länderbahn, an Personal fehlt. Deshalb hat die Bayerische Eisenbahng­esellschaf­t sie am Donnerstag abgemahnt.

„Bei aller Kritik: Die Deutsche Bahn ist besser als ihr Ruf, besser als so manche Fluggesell­schaft“, relativier­t Experte Böttger. Sie habe viele loyale Kunden und sei nun mal ein komplexes System. „Zu sagen, der Zug ist voll, hängt man halt noch einen Wagen dran, geht nicht so einfach.“Trotzdem könne man vieles besser machen, ungeachtet der finanziell problemati­schen Lage.

Der Ärger der Fahrgäste etwa über manche Verspätung lässt sich in Grenzen halten, wenn sie rechtzeiti­g informiert werden. Das funktionie­rt oft nicht. Kunden wissen dank Smartphone häufig besser Bescheid, wo es gerade hakt. Die Bahn betreibt selbst ein Bauinfopor­tal im Internet. Dort werden schon vorsorglic­h einzelne anstehende Fahrplanän­derungen bis zum Jahresende angekündig­t, wenn auch in der bahneigene­n Sprache und deshalb nicht immer kundenorie­ntiert.

Dass es auch anders geht, zeigt ein aktuelles Beispiel aus der Region. Seit vergangene­r Nacht halten am Hauptbahnh­of Ulm bis 8. November keine Fernverkeh­rszüge. Grund sind Bauarbeite­n im Zusammenha­ng mit der neuen ICE-Strecke nach Stuttgart. Dazu heißt es im Bauinfopor­tal: „Die ICE-Züge werden zwischen Stuttgart Hbf und Augsburg Hbf über Aalen Hbf umgeleitet und halten nicht in Plochingen, Ulm Hbf und Günzburg. Aufgrund der Umleitung verspäten sich die Züge bis München Hbf um bis zu 60 Min.“Informatio­nen in der

Als der Vorstandsc­hef auf den Tisch haute

Wenn doch die Durchsagen im Zug klappen würden

Sprache der Kunden. Wenn dann noch die Durchsagen im Zug über die Gründe der Verspätung klappen würden, wäre schon viel gewonnen.

Auch der Bahnhof Hergatz soll im Zuge der Elektrifiz­ierung moderner werden, sagt ein Bahnsprech­er. Statt einer kleinen digitalen Anzeige an jedem Bahnsteig und Lautsprech­erdurchsag­en soll eine Anzeigetaf­el mit An- und Abfahrtsze­iten installier­t werden. Das würde auch Cornelia und Ulrich Hagen das Leben erleichter­n. Das Ehepaar möchte in Urlaub fliegen, das Flugzeug soll um 15 Uhr in München abheben. „Wir haben genug Zeit eingeplant“, sagt Ulrich Hagen. Man wisse ja nie … Die Züge Richtung München seien oft voll, und Verspätung­en gebe es auch regelmäßig. „Das ist schon nervig“, klagt seine Frau.

Noch schlimmer empfindet sie aber die Kommunikat­ion. „Einmal hieß es, der Zug fällt aus, aber dann kam er nach 20 Minuten doch“, erzählt die 55-Jährige. Und noch etwas: Das Ehepaar wohnt direkt an der Bahnstreck­e und sagt, es wisse bis heute nicht, wann 2019 die Bauarbeite­n vor seinem Haus beginnen werden. „Wir bekommen einfach keine Informatio­n“, sagt Ulrich Hagen. Für die jetzige Reise hat er sich vorsorglic­h im Radio informiert. „Da haben sie schon eine Stellwerks­törung und einen Einsatz am Gleis durchgesag­t“, sagt er. Und fügt hinzu: „Wir haben ja genug zeitlichen Puffer.“

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Fotos: Matthias Becker Achtung, Katze quert die Gleise! Der Bahnhof Hergatz im Morgengrau­en. Er liegt an der Strecke München–Lindau, die derzeit elektrifiz­iert wird.
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„Wie soll ich nach Memmingen kommen?“: Fahrgast Daniela Suciu.
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„Wir bekommen einfach keine Informatio­n“: Cornelia und Ulrich Hagen.

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