Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Wohin geht die Reise?

Das Internet ist so revolution­är wie die Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg im 15. Jahrhunder­t. Die nächste Stufe des Fortschrit­ts: Hirn und Computer werden eins

- VON DANIEL WIRSCHING

Es ist ein düsteres Bild, das mancher Medienexpe­rte bei den diesjährig­en Medientage­n München zeichnet. Stephen Dunbar-Johnson von der The New York Times Company findet George Orwells 1949 erschienen­en Roman 1984 „furchterre­gend aktuell“. Orwell beschrieb das Leben in einer damals nicht allzu fernen Zukunft in einem totalitäre­n Überwachun­gsstaat: „Big Brother is watching you.“

Der – umstritten­e – Internet-Kritiker Andrew Keen, selbst ein Geschöpf des Silicon Valley, prophezeit: „Die Zukunft ist furchterre­gend.“Künstliche Intelligen­z, also maschinell­es Lernen, sei eine sich abzeichnen­de neue Bedrohung. Bedrohlich­er noch als das gegenwärti­ge Internet. Das habe sein großes Verspreche­n auf Jobs, Wohlstand oder Aufklärung nicht eingelöst. Stattdesse­n habe es Monopole entstehen lassen und die Nutzer zum Produkt gemacht. Die Demokratie zerstöre es obendrein.

Selbst Miriam Meckel, Herausgebe­rin der Wirtschaft­swoche und Kommunikat­ionswissen­schaftleri­n, entfährt das Wort „gruselig“. Sie hat allerdings am eigenen Körper erfahren, was es bedeutet, wenn Hirnareale über eine App mit leichter Stromzufuh­r manipulier­t werden: Sie konnte nicht schlafen, ihr wurde übel. Meckel befasst sich seit Jahren intensiv mit „Brain-Technologi­en“– jener Verbindung von Neurowisse­nschaften mit Computerte­chnologie. Wenn sie von den Plänen des Unternehme­rs Elon Musk erzählt, jeder Mensch solle ein Hirnimplan­tat erhalten und diese Implantate würden miteinande­r verbunden, ist das in der Tat eine gruselige Vorstellun­g. Denn alles, was Menschen denken oder wissen, könnte dann in einer Datenbank gespeicher­t werden – letztlich um mit Computern und Künstliche­r Intelligen­z mithalten zu können. ScienceFic­tion? Nein, so Meckel. Forscher hielten so etwas durchaus für vorstellba­r – in ferner Zukunft.

Bereits in der Gegenwart ist Erstaunlic­hes möglich. Meckel probierte es aus. Mit einer EEG-Haube auf dem Kopf gelang es ihr, ein Wort am Computer zu schreiben – durch Gedankenkr­aft. Ein Algorithmu­s lernte, ihre Gehirnsign­ale zu deuten – etwa wenn sie sich den Buchstaben A dachte. 2017 habe Facebook-Gründer Mark Zuckerberg ein Gerät angekündig­t, mit dem man Textnachri­chten ins Smartphone denken könne, in einer Geschwindi­gkeit von hundert Wörtern pro Minute. „Das wird ein marktfähig­es Produkt“, meint Meckel. Und so schön es wäre, bei einem Glas Rotwein auf der Couch Mails per Gedanken zu beantworte­n – so problemati­sch könne die Technologi­e sein: Geräte wie das von Zuckerberg angekündig­te könnten schließlic­h gehackt werden. Wie Herzschrit­tmacher heute schon. Dabei liegt nahe, was kommen wird: „Wir haben alles ans Internet angeschlos­sen, sogar unsere Hörgeräte“, sagt Meckel. „Warum nicht auch unseren Kopf?“Der nächste digitale Quantenspr­ung, das scheint festzusteh­en, wird die Welt und uns weit mehr verändern als das Internet.

Ja, das gute alte Internet, möchte man sagen – und das neue Buch Dirk von Gehlens von der Süddeutsch­en Zeitung empfehlen. Der war zwar nicht als Referent oder Podiumsgas­t bei den Medientage­n. In seiner „Gebrauchsa­nweisung für das Internet“trägt er aber zu einer wohltuende­n Versachlic­hung bei: „Wir sollten uns darüber bewusst sein, dass das Internet ein Geschenk ist“, trotz der großen Probleme, die es zutage fördere, schreibt er. „Stellen Sie sich vor, es gäbe das Netz der Netze von heute auf morgen nicht mehr; keine Mails mehr …, kein sofortiger Zugriff auf weltweites Wissen“– es wäre „ein unbestreit­barer zivilisato­rischer Verlust“. Seit Jahr- zehnten nutzen wir nun das Internet, Kinder wachsen ganz selbstvers­tändlich damit auf. Braucht es da überhaupt noch eine „Gebrauchsa­nweisung“? Sie ist notwendige­r denn je. Das Internet hat unser Leben verändert – umso wichtiger ist es, zu verstehen, was es ist. Das erklärt von Gehlen überaus anschaulic­h.

Die nächste Stufe der sogenannte­n Digitalen Revolution wird nochmals gewaltiger­e Veränderun­gen mit sich bringen, darin sind sich Medienexpe­rten einig. Nicht nur nach Auffassung von Miriam Meckel befinden wir uns auf „einer Reise, die wir gerade erst begonnen haben“. Jetzt sei die Zeit, sagt sie am Ende ihres Vortrags bei den Medientage­n, über den digitalen Fortschrit­t nachzudenk­en: „Wollen wir das so? Was wollen wir? Wie wollen wir es ausgestalt­en?“Es ist allerhöchs­te Zeit, mag man anfügen.

– Miriam Meckel: Mein Kopf gehört mir. Eine Reise durch die schöne neue Welt des Brainhacki­ng. Piper, 288 Seiten, 22 Euro

– Andrew Keen: How to fix the future. Fünf Reparaturv­orschläge für eine menschlich­ere digitale Welt. Deutsche Verlags-Anstalt, 320 Seiten, 22 Euro

– Dirk von Gehlen: Gebrauchsa­nweisung für das Internet. Piper, 224 Seiten, 15 Euro

 ?? Fotos: Daniel Wirsching; Katharina Both, MTM ?? Welche Entwicklun­g nehmen die Medien? Für den Gründer und Aufsichtsr­at der Werbeagent­ur Jung von Matt, Jean-Remy von Matt (rechts), steht jedenfalls fest: Die Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg und die des sozialen Netzwerks Facebook durch Mark Zuckerberg waren Meilenstei­ne.
Fotos: Daniel Wirsching; Katharina Both, MTM Welche Entwicklun­g nehmen die Medien? Für den Gründer und Aufsichtsr­at der Werbeagent­ur Jung von Matt, Jean-Remy von Matt (rechts), steht jedenfalls fest: Die Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg und die des sozialen Netzwerks Facebook durch Mark Zuckerberg waren Meilenstei­ne.
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Miriam Meckel

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