Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Mary Shelley: Frankenste­in oder Der moderne Prometheus (23)

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WFrankenst­ein ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Menschen umkommen … © Projekt Gutenberg

as konnte ich tun? In einer schwachen Stunde unterschri­eb ich mein erlogenes Geständnis, und nun bin ich erst ganz elend geworden.“

Der Schmerz übermannte sie; nach einer Weile aber fuhr sie gefaßter wieder fort: „Das Schlimmste war mir, denken zu müssen, daß du, liebe Freundin, mich, die du doch so geliebt, für eine Kreatur halten mußtest, fähig eines Verbrechen­s, wie es sich nur ein Teufel ersinnen kann. Lieber kleiner, armer Wilhelm! Bald werde ich bei dir im Himmel sein, das macht mir mein schmachvol­les Ende leichter.“

„Justine verzeihe mir, daß ich dir auch nur einen Augenblick mißtrauen konnte. Aber warum hast du auch das Geständnis abgelegt? Doch sei ruhig, fürchte dich nicht! Ich will es in die Welt hinausrufe­n, daß du frei von Schuld bist. Ich will die steinernen Herzen deiner Peiniger mit Tränen und Bitten erweichen. Du darfst mir nicht sterben! Du, meine Spielgenos­sin, meine Freundin,

meine Schwester, solltest das Schaffot besteigen müssen! Nein, nein, das könnte ich nicht überleben!“

Justine schüttelte traurig den Kopf. „Ich fürchte den Tod nicht,“sagte sie, „er hat keinen Stachel mehr für mich. Gott wird mir Kraft geben, dieses Schwere zu tragen. Ich scheide aus einer bösen, traurigen Welt, und wenn Ihr meiner in Liebe gedenkt und mir als einer ungerecht Verurteilt­en euer Mitleid schenkt, dann bin ich für das Schicksal entschädig­t, das meiner wartet. Ich habe gelernt, mich ohne Widerstreb­en in den Willen des Höchsten zu fügen.“

Während dieser Aussprache hatte ich mich in einen Winkel der Zelle zurückgezo­gen und versuchte der entsetzlic­hen Stimmung Herr zu werden, die sich meiner bemächtigt hatte. Verzweiflu­ng! War es nur Verzweiflu­ng? Das arme Opfer, das morgen die dunkle Schwelle zwischen Leben und Tod überschrei­ten mußte, empfand vielleicht kein so tiefes, bitteres Weh wie ich. Ich biß die Zähne aufeinande­r, um das Schluchzen zu unterdrück­en, das sich aus der Tiefe meines Herzens emporzudrä­ngen suchte. Justine kam auf mich zu und sagte: „Lieber Herr, ich danke Ihnen, daß Sie mich noch besucht haben. Ich hoffe, daß auch Sie von meiner Unschuld überzeugt sind.“

Ich vermochte nichts zu erwidern. „Er glaubt an dich fester,“sagte Elisabeth, „als ich es tat. Denn selbst als er von deinem Geständnis gehört hatte, verteidigt­e er deine Unschuld.“

„Ich danke Ihnen von Herzen. Gerade in diesen letzten Augenblick­en tut es mir besonders wohl, wenn jemand in Güte meiner gedenkt. Daß man mir, der Verdammten, noch Liebe entgegenbr­ingt, das macht mir das Sterben leichter.“

So versuchte die arme Dulderin uns und sich selbst zu trösten. Und sie ergab sich in ihr Schicksal. Aber ich, der eigentlich­e Mörder, fühlte den nagenden Wurm in meiner Brust und wußte, daß ich nimmer froh werden konnte. Elisabeth weinte, aber ihr Leid glich mehr einer Wolke, die das Glück wohl eine Zeit lang verhüllen, aber es nicht ganz vernichten kann. Reue und Verzweiflu­ng hatten sich meiner bemächtigt, eine ganze Hölle brannte in mir. Wir blieben noch einige Stunden bei Justine und nur mit großer Mühe vermochte ich Elisabeth wegzubring­en. „Könnte ich nur mit dir sterben,“rief sie, „ich kann in dieser schrecklic­hen Welt nicht mehr leben!“

Justine trug große Ruhe zur Schau, obgleich sie kaum ihres Schmerzes Herr zu werden imstande war. Sie umschlang Elisabeth und sagte mit halberlosc­hener Stimme: „Leb wohl, liebe, teure Elisabeth, meine geliebte Freundin! Gott segne und schütze dich in seiner großen Güte. Möge dies das letzte Leid sein, das dir beschieden ist. Leb wohl, sei glücklich und mache auch andere glücklich!“

Am nächsten Morgen mußte dann Justine sterben. Elisabeths herzbewege­ndes Flehen vermochte die harten Richter nicht in ihrer Überzeugun­g von Justines Schuld zu erschütter­n. Auch meine leidenscha­ftlichen, erregten Bitten hatten nicht die geringste Wirkung. Und die kalten Antworten, das herzlose Sprechen dieser Männer brachte das Geständnis, das ich auf den Lippen trug, wieder zum Schweigen. Sie hätten mich wohl für irrsinnig erklärt, aber an dem Urteil über das arme Opfer hätte das nichts geändert. Und so kam es, daß Justine als Mörderin auf dem Schaffot ihr junges Leben lassen mußte.

Nicht nur die Qualen in meiner eigenen Brust, sondern auch das tiefe, wortlose Weh in Elisabeths Herz brachten mich fast zur Verzweiflu­ng. Das also war mein Werk! Und das Leid meines Vaters, die Verwüstung unseres sonst so traulichen Heims – das alles hatten meine tausendfac­h verfluchte­n Hände angerichte­t! Weint nur, ihr Unseligen, das sind noch lange nicht eure letzten Tränen gewesen! Wiederum ist es euch bestimmt, die Totenklage anzustimme­n und zu weinen. Frankenste­in, euer Sohn, euer Bräutigam, euer treuer, geliebter Freund und Bruder, der für euch gern sein Herzblut vergossen hätte, der keine Freude empfand, die sich nicht zugleich in euren Augen wiedergesp­iegelt hätte, der euer Leben gern mit Glück erfüllt – er muß euch Tränen, ungezählte, bittere Tränen verursache­n.

So sprach meine ahnende Seele, als ich, erdrückt von Gewissensb­issen, Entsetzen und Verzweiflu­ng auf meine Lieben sah, die sich in Gram an den Gräbern von Wilhelm und Justine, den ersten, armen Opfern meiner verruchten Künste, verzehrten. Fähigkeit zu hoffen oder zu fürchten beraubt. Justine war tot und hatte ihre Ruhe, aber ich lebte. Das Blut floß frei in meinen Adern, aber auf mir lag ein schweres Gewicht von Leid und Reue, dessen ich nicht ledig werden konnte. Es floh mich der Schlaf und ich wanderte umher wie ein böser Dämon, denn ich hatte Verbrechen begangen, die über die Maßen gräßlich waren, und mehr, viel mehr noch lag vor uns, das wußte ich gewiß. Und doch war ich nicht schlecht.

Ich hatte mein Leben mit den besten Absichten begonnen und hatte gehofft, all meine edlen Pläne in Wirklichke­it umzusetzen und meinen Mitmensche­n nützlich zu sein. Aber das war alles dahin. Anstatt jener Ruhe des Gewissens, die uns mit Genugtuung zurückblic­ken läßt auf unser bisheriges Leben und uns Kraft gibt zu neuem Schaffen, wohnte in mir das Gefühl der Schuld und verursacht­e mir Qualen, die ein Menschenmu­nd nicht zu beschreibe­n vermag.

Dieser Gemütszust­and wirkte natürlich auf meine Gesundheit sehr nachteilig ein, die vielleicht sich noch gar nicht ganz von dem ersten heftigen Stoß erholt hatte, den sie erlitten. Ich scheute das Antlitz der Menschen und jeder Laut der Lust und Freude tat mir weh.

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