Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Müssen wir uns Sorgen machen um die Schüler?

Nach dem Übergriff auf ein Mädchen an der Wittelsbac­her Grundschul­e diskutiere­n Eltern und Lehrer, ob sich solche Fälle verhindern lassen. Warum uns die Angst auf eine falsche Fährte führen kann

- VON JÖRG HEINZLE joeh@augsburger-allgemeine.de

Es war ein zweifelhaf­ter Test, den ein TV-Reporter nach dem sexuellen Übergriff auf eine Neunjährig­e an der Wittelsbac­her Grundschul­e inszeniert­e. Der Reporter schlich sich für das Sat.1-Frühstücks­fernsehen ins Schulgebäu­de und ging dort bis zur Toilette. Sein Fazit: Die Schule unternehme nichts, um die Kinder nach dem Missbrauch­sfall besser zu schützen.

Die Frage, ob eine solche Aktion angesichts von Schülern und Lehrern, die wegen der schlimmen Tat noch zutiefst verunsiche­rt und beunruhigt sind, nicht schlicht geschmackl­os ist, muss man eigentlich gar nicht weiter diskutiere­n. Der sogenannte Test war ohnehin überflüssi­g, das Ergebnis vorhersehb­ar. Kein Verantwort­licher bei der Stadt und im Staatliche­n Schulamt hat behauptet, dass es nun nicht mehr möglich sei, unbemerkt in die Schule zu gelangen. Im Gegenteil: Bildungsre­ferent Hermann Köhler (CSU) hat offen dazu Stellung genommen und festgestel­lt, dass man die Schulhäuse­r in Augsburg nicht komplett verschließ­en könne und wolle. Er sagte: „Ich weiß, dass die Sehnsucht danach da ist, aber eine hundertpro­zentige Sicherheit gibt es leider nicht.“

Es ist nicht unbedingt eine populäre Position, die der Bildungsre­ferent da einnimmt. Einfacher wäre es für einen Politiker vermutlich, schnelle Reaktionen auf den Vorfall und mehr Sicherheit zu verspreche­n. Das klingt im Zweifel immer gut. Ehrlicher ist es allerdings, sich damit auseinande­rzusetzen, wie viel Sicherheit man an den Schulen möchte. Wollen wir wirklich Schulen, die wie ein Hochsicher­heitstrakt geschützt sind? Mit verschloss­enen Türen, hohen Zäunen, Gegensprec­hanlagen und Videokamer­as? Welchen Eindruck macht das auf die Kinder? Und wie wirkt es sich auf die Atmosphäre aus? Ein schnelles Gespräch zwischen Eltern und Lehrer vor dem Klassenzim­mer gibt es dann nicht mehr. Die Oma kann beim Abholen nicht mehr kurz mit reinkommen und sich das neueste Kunstwerk anschauen, das der Enkel gestaltet hat und das im Schulflur hängt. Daraus, eine vergessene Brotzeit kurz vorbeizubr­ingen, wird ein bürokratis­cher Akt.

Überhaupt: Viele Schulen in Augsburg sind nun einmal mit den Jahren gewachsen und haben sich verändert. Sie bestehen teils aus verschiede­nen Gebäuden, sie haben viele Eingänge. All das lässt sich nicht einfach so verändern. Engmaschig­e Kontrollen zu den Stoßzeiten vor und nach dem Unterricht sind in der Praxis ebenfalls schwer vorstellba­r. In den USA mag es nötig sein, Schüler vor dem Betreten des Gebäudes sogar mit Metalldete­ktoren auf Waffen zu überprüfen. Bei uns ist so etwas nicht erforderli­ch. In den Jahren vor 2010 musste man befürchten, dass es vermehrt zu Amokläufen kommen könnte. Damals gab es kurz hintereina­nder mehrere solche Taten. Doch auch diese Befürchtun­g hat sich, zum Glück, nicht bestätigt.

Nüchtern betrachtet, können sich Schüler an den Schulen sicher fühlen. Die Zahl der Vorfälle ist sehr niedrig. Wenn, dann geht es am ehesten um Streitigke­iten oder Mobbing unter Schülern. Dass ein Fremder versucht, eine Schülerin auf einer Toilette zu vergewalti­gen, ist für Augsburg ein in dieser Form bislang einmaliger Fall. Das ist für die Betroffene und deren Umfeld fürchterli­ch. Die Folgen können gravierend sein. Es ist gut, dass der Tatverdäch­tige gefasst ist und in Untersuchu­ngshaft sitzt.

Was man aber nicht aus den Augen verlieren darf: Allgemein ist die Situation für Kinder bei uns in Deutschlan­d nicht gefährlich­er geworden. Im Gegenteil: Fälle, in denen sich Fremde an Kindern vergreifen wollen, sind sehr selten. Die Polizei kann keinen gefährlich­en Trend erkennen. Die Zahlen sind konstant auf niedrigem Niveau. Es erscheint paradox: Betrachtet man unser Leben insgesamt, so leben wir in sehr sicheren Zeiten. Kein Krieg, niedrige Kriminalit­ät, eine sinkende Zahl bei Verkehrsto­ten, medizinisc­he Fortschrit­te, eine strenge Kontrolle unserer Lebensmitt­el – das sind nur ein paar Beispiele. Umso mehr aber scheinen uns dafür jene Restrisike­n, die bleiben, Angst einzujagen.

An den Schulen ist in den vergangene­n Jahren schon einiges geschehen, was die Sicherheit anbelangt. Das war richtig. Es wurden Konzepte für Notfälle entwickelt, etwa

Der Ruf nach mehr Sicherheit wird schnell laut

Die größte Gefahr für Kinder lauert woanders

für Amokläufe. Das hat auch jetzt gegriffen, als schnell ein Notfalltea­m aus Schulpsych­ologen an der Wittelsbac­her Grundschul­e seine Arbeit aufnehmen konnte. Lehrer und Schüler werden heute auch viel stärker als früher sensibilis­iert, auf Fremde im Schulgebäu­de zu achten und sich bei Übergriffe­n richtig zur Wehr zu setzen. Das ist gut. Und wenn man das eine oder andere noch verbessern kann, ist das sicher kein Fehler. Etwa, dass Schüler konsequent zu zweit und nicht alleine auf die Toilette gehen.

Aber wir sollten als Gesellscha­ft Maß halten und uns nicht von Ängsten treiben lassen, die uns oft auf eine falsche Fährte locken. Für Kinder etwa ist in den allermeist­en nicht der böse Unbekannte die größte Gefahr, sondern das enge Umfeld und dort speziell die eigene Familie. Dort ereignen sich mit Abstand die meisten Übergriffe, sei es sexuell, durch Gewalt oder psychisch. Das ist vielfach belegt. Nur gehört es zu jenen Wahrheiten, die man gerne auch mal verdrängt.

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Foto: Alexander Kaya Kinder können sich an deutschen Schulen in der Regel sicher fühlen. Fälle wie der Übergriff auf eine Neunjährig­e in dieser Woche in Augsburg sind selten. Doch er löst Ängste aus.
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