Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Müssen wir uns Sorgen machen um die Schüler?
Nach dem Übergriff auf ein Mädchen an der Wittelsbacher Grundschule diskutieren Eltern und Lehrer, ob sich solche Fälle verhindern lassen. Warum uns die Angst auf eine falsche Fährte führen kann
Es war ein zweifelhafter Test, den ein TV-Reporter nach dem sexuellen Übergriff auf eine Neunjährige an der Wittelsbacher Grundschule inszenierte. Der Reporter schlich sich für das Sat.1-Frühstücksfernsehen ins Schulgebäude und ging dort bis zur Toilette. Sein Fazit: Die Schule unternehme nichts, um die Kinder nach dem Missbrauchsfall besser zu schützen.
Die Frage, ob eine solche Aktion angesichts von Schülern und Lehrern, die wegen der schlimmen Tat noch zutiefst verunsichert und beunruhigt sind, nicht schlicht geschmacklos ist, muss man eigentlich gar nicht weiter diskutieren. Der sogenannte Test war ohnehin überflüssig, das Ergebnis vorhersehbar. Kein Verantwortlicher bei der Stadt und im Staatlichen Schulamt hat behauptet, dass es nun nicht mehr möglich sei, unbemerkt in die Schule zu gelangen. Im Gegenteil: Bildungsreferent Hermann Köhler (CSU) hat offen dazu Stellung genommen und festgestellt, dass man die Schulhäuser in Augsburg nicht komplett verschließen könne und wolle. Er sagte: „Ich weiß, dass die Sehnsucht danach da ist, aber eine hundertprozentige Sicherheit gibt es leider nicht.“
Es ist nicht unbedingt eine populäre Position, die der Bildungsreferent da einnimmt. Einfacher wäre es für einen Politiker vermutlich, schnelle Reaktionen auf den Vorfall und mehr Sicherheit zu versprechen. Das klingt im Zweifel immer gut. Ehrlicher ist es allerdings, sich damit auseinanderzusetzen, wie viel Sicherheit man an den Schulen möchte. Wollen wir wirklich Schulen, die wie ein Hochsicherheitstrakt geschützt sind? Mit verschlossenen Türen, hohen Zäunen, Gegensprechanlagen und Videokameras? Welchen Eindruck macht das auf die Kinder? Und wie wirkt es sich auf die Atmosphäre aus? Ein schnelles Gespräch zwischen Eltern und Lehrer vor dem Klassenzimmer gibt es dann nicht mehr. Die Oma kann beim Abholen nicht mehr kurz mit reinkommen und sich das neueste Kunstwerk anschauen, das der Enkel gestaltet hat und das im Schulflur hängt. Daraus, eine vergessene Brotzeit kurz vorbeizubringen, wird ein bürokratischer Akt.
Überhaupt: Viele Schulen in Augsburg sind nun einmal mit den Jahren gewachsen und haben sich verändert. Sie bestehen teils aus verschiedenen Gebäuden, sie haben viele Eingänge. All das lässt sich nicht einfach so verändern. Engmaschige Kontrollen zu den Stoßzeiten vor und nach dem Unterricht sind in der Praxis ebenfalls schwer vorstellbar. In den USA mag es nötig sein, Schüler vor dem Betreten des Gebäudes sogar mit Metalldetektoren auf Waffen zu überprüfen. Bei uns ist so etwas nicht erforderlich. In den Jahren vor 2010 musste man befürchten, dass es vermehrt zu Amokläufen kommen könnte. Damals gab es kurz hintereinander mehrere solche Taten. Doch auch diese Befürchtung hat sich, zum Glück, nicht bestätigt.
Nüchtern betrachtet, können sich Schüler an den Schulen sicher fühlen. Die Zahl der Vorfälle ist sehr niedrig. Wenn, dann geht es am ehesten um Streitigkeiten oder Mobbing unter Schülern. Dass ein Fremder versucht, eine Schülerin auf einer Toilette zu vergewaltigen, ist für Augsburg ein in dieser Form bislang einmaliger Fall. Das ist für die Betroffene und deren Umfeld fürchterlich. Die Folgen können gravierend sein. Es ist gut, dass der Tatverdächtige gefasst ist und in Untersuchungshaft sitzt.
Was man aber nicht aus den Augen verlieren darf: Allgemein ist die Situation für Kinder bei uns in Deutschland nicht gefährlicher geworden. Im Gegenteil: Fälle, in denen sich Fremde an Kindern vergreifen wollen, sind sehr selten. Die Polizei kann keinen gefährlichen Trend erkennen. Die Zahlen sind konstant auf niedrigem Niveau. Es erscheint paradox: Betrachtet man unser Leben insgesamt, so leben wir in sehr sicheren Zeiten. Kein Krieg, niedrige Kriminalität, eine sinkende Zahl bei Verkehrstoten, medizinische Fortschritte, eine strenge Kontrolle unserer Lebensmittel – das sind nur ein paar Beispiele. Umso mehr aber scheinen uns dafür jene Restrisiken, die bleiben, Angst einzujagen.
An den Schulen ist in den vergangenen Jahren schon einiges geschehen, was die Sicherheit anbelangt. Das war richtig. Es wurden Konzepte für Notfälle entwickelt, etwa
Der Ruf nach mehr Sicherheit wird schnell laut
Die größte Gefahr für Kinder lauert woanders
für Amokläufe. Das hat auch jetzt gegriffen, als schnell ein Notfallteam aus Schulpsychologen an der Wittelsbacher Grundschule seine Arbeit aufnehmen konnte. Lehrer und Schüler werden heute auch viel stärker als früher sensibilisiert, auf Fremde im Schulgebäude zu achten und sich bei Übergriffen richtig zur Wehr zu setzen. Das ist gut. Und wenn man das eine oder andere noch verbessern kann, ist das sicher kein Fehler. Etwa, dass Schüler konsequent zu zweit und nicht alleine auf die Toilette gehen.
Aber wir sollten als Gesellschaft Maß halten und uns nicht von Ängsten treiben lassen, die uns oft auf eine falsche Fährte locken. Für Kinder etwa ist in den allermeisten nicht der böse Unbekannte die größte Gefahr, sondern das enge Umfeld und dort speziell die eigene Familie. Dort ereignen sich mit Abstand die meisten Übergriffe, sei es sexuell, durch Gewalt oder psychisch. Das ist vielfach belegt. Nur gehört es zu jenen Wahrheiten, die man gerne auch mal verdrängt.