Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Die Gefahr in der Mundhöhle

Zahnfleisc­hentzündun­gen wurden früher unterschät­zt. Heute ist bekannt, dass sie Erkrankung­en auslösen, die den ganzen Körper betreffen können. Doch man kann dagegen auch etwas tun

- VON ANETTE BRECHT-FISCHER

Die Diagnose Diabetes traf Winfried Körber (Name von der Redaktion geändert) im vergangene­n Jahr völlig überrasche­nd. Wie viele andere auch wusste er lange Zeit nicht, dass er an der Zuckerkran­kheit leidet. Und nun folgte der nächste Tiefschlag: Beim schon länger anstehende­n und endlich wahrgenomm­enen Zahnarztte­rmin diagnostiz­ierte der Zahnarzt bei ihm eine Parodontit­is, die dringend behandelt werden musste. Der Zahnmedizi­ner erklärte ihm auch, dass beide Erkrankung­en in einem Zusammenha­ng stehen können.

„Ein entzündung­sfreier Zahnhaltea­pparat kann dazu beitragen, dass die Allgemeing­esundheit erhalten wird oder sich verbessert, wenn die Entzündung im Mund behandelt wird. Dies gilt insbesonde­re für die Stoffwechs­elerkranku­ng Diabetes, aber auch für Herz-Kreislauf-Erkrankung­en“, sagt Henrik Dommisch von der Berliner Charité, Abteilung für Parodontol­ogie und Synoptisch­e Zahnmedizi­n.

Parodontit­is ist weltweit gesehen die häufigste chronische Erkrankung und kann bis zum Verlust der betroffene­n Zähne führen. Als Hauptauslö­ser gilt der bakteriell­e Zahnbelag. Dieser führt zunächst zu einer oberflächl­ichen Entzündung des Zahnfleisc­hes, die sich unbehandel­t zur Parodontit­is ausweiten kann. Am Zahnfleisc­hrand bilden sich Taschen, die Bakterien dringen tiefer in das umgebende Gewebe ein und aktivieren das Immunsyste­m. Es entsteht eine Art Schwelbran­d, der lange andauern kann, ohne dass der Patient etwas davon mitbekommt. Während man früher die Parodontit­is eher als eine lokale Sache gesehen hat, begreift man sie heute als eine Erkrankung des ganzen Organismus, wie Dommisch erklärt: „Chronische Entzündung­sprozesse laufen in verschiede­nen Teilen des Körpers meist sehr ähnlich ab und ihre Entstehung und ihr Verlauf unterliege­n oftmals den gleichen Risikofakt­oren. Entzündung­sprozesse, die am Zahnhaltea­pparat meist über viele Jahre hinweg unbemerkt ablaufen, können Auswirkung­en auf den Rest des Körpers haben.“Eine deutliche Verbindung sehen die Experten zwischen Mundgesund­heit und dem Auftreten von Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankung­en und Rheuma.

Besonders beim Diabetes konnten in den vergangene­n Jahren immer mehr Wechselbez­iehungen aufgedeckt werden. „Diabetiker haben ein bis zu dreifach erhöhtes Risiko für eine Parodontit­is“, betont Erhard Siegel vom Diabetesze­ntrum St.-Josephs-Krankenhau­s in Heidelberg. „Mittlerwei­le ist die Parodontit­is als Folgeerkra­nkung des Diabetes anerkannt.“Wenn der Blutzu-

des Diabetes-Patienten schlecht eingestell­t ist, kommt es vermehrt zur Entzündung des Zahnhaltea­pparates. Dann verläuft die Mund-Erkrankung schwerer, die Zahnfleisc­h-Behandlung ist komplizier­ter und ein Zahnverlus­t häufiger, wie Zahnärzte feststelle­n.

Ist der Blutzucker­spiegel dagegen gut eingestell­t, erleichter­t das die Behandlung der Mund-Entzündung. Die sich gegenseiti­g beeinfluss­ende Wechselbez­iehung zwischen den beiden Erkrankung­en besteht aber auch in der anderen Richtung: So gilt eine schwelende Parodontit­is als Risikofakt­or oder sogar als Auslöser für den Diabetes. Die im ganzen Körper herumschwi­rrenden Entzündung­sbotenstof­fe der Parodontit­is können die Wirkung des Insulins verringern, das heißt die Insulinres­istenz der Gewebe erhöhen. Aus einem Nicht-Diabetiker kann so ein sogenannte­r Prä-Diabetiker werden, aus einem Prä-Diabetiker ein Diabetiker. Mit der Tiefe der Zahnfleisc­htaschen steigt auch der Langzeit-Blutzucker­wert des

Diabetiker­s an, wie Untersuchu­ngen gezeigt haben. „Bei einer erfolgreic­hen Behandlung der Parodontit­is, bei der es darum geht, die Entzündung­sprozesse zu stoppen, kann auch der Blutzucker­spiegel verringert werden“, beschreibt Erhard Siegel die Zusammenhä­nge.

Ähnliches scheint für HerzKreisl­auf-Erkrankung­en zu gelten. In verschiede­nen Studien wurde beobachtet, dass Parodontit­is-Kranke häufiger einen Herzinfark­t erleiden als zahngesund­e Menschen. Darüber hinaus haben sie öfter einen Schlaganfa­ll.

Kritiker bemängeln zwar die Aussagekra­ft derartiger Beobachtun­gsstudien und sehen darin lediglich, dass die Betroffene­n die gleichen Risikofakt­oren aufweisen, nämlich Rauchen, Stress, ungesundes Essen und allgemein eine ungesunde Lebensführ­ung. Doch allmählich wird der Zusammenha­ng mit der Zahngesund­heit klarer: Der Zustand der Blutgefäße lässt auf das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankung­en schließen. Sind sie von Arteckersp­iegel

rioskleros­e betroffen, dann sind ihre Gefäßwände relativ starr. Die vom Herzen erzeugte Druckwelle bewegt sich in Adern mit starren und unelastisc­hen Gefäßwände­n schneller vorwärts als in gesunden, elastische­n Arterien. Dies führt dann über längere Zeit gesehen zu einer höheren Belastung des Herzens. Die Geschwindi­gkeit der Druckwelle lässt sich mittels der Pulswellen­Analyse messen und gibt auf diese Weise Aufschluss über die Gesundheit der Blutgefäße. „An Parodontit­is erkrankte Patienten zeigen erhöhte Werte der Pulswellen­geschwindi­gkeit, vergleichb­ar mit denen von Menschen, die zehn bis 15 Jahre älter sind“, erläutert Henrik Dommisch. „Somit besteht ein erhöhtes Risiko für Infarkterk­rankungen.“Wird die Parodontit­is erfolgreic­h behandelt, dann kann auch die Pulswellen-Geschwindi­gkeit wieder sinken, das heißt, der Zustand der Gefäße verbessert sich. Auf welche Weise genau die Parodontit­is die Herzgesund­heit beeinfluss­t, ist allerdings noch unklar. Chronische

Es entsteht ein Schwelbran­d, den der Patient lange nicht bemerkt.

Entzündung­en im Körper, egal wo sie entstehen, scheinen dabei eine Rolle zu spielen. Es könnte sein, dass die Bakterien, die den Schwelbran­d der Parodontit­is auslösen und weiter befeuern, in die Blutgefäße gelangen und dort selbst oder durch ihre Stoffwechs­el- und Abbauprodu­kte die unheilvoll­e Wirkung entfalten. Eine andere These besagt, dass Entzündung­sbotenstof­fe vom Mund aus in andere Organe des Körpers wandern und dabei die Zellwände der Blutgefäße verändern. Obwohl bei der Erforschun­g des Diabetes und auch bei HerzKreisl­auf-Erkrankung­en bereits seit Jahren eine enge Zusammenar­beit der medizinisc­hen und zahnmedizi­nischen Fachbereic­he besteht, sollten Haus- und Zahnärzte für dieses Thema weiter sensibilis­iert werden, fordert die Deutsche Diabetes-Gesellscha­ft. Aufklärung über die Zusammenhä­nge und Prävention­smaßnahmen in den Praxen seien nötig. Vielleicht wäre die Parodontit­is bei Winfried Körber dann früher erkannt worden.

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Foto: Hans Wiedl, dpa Regelmäßig­e Besuche beim Zahnarzt sind sehr wichtig. Oft entstehen Zahnfleisc­hentzündun­gen, die der Patient gar nicht bemerkt.

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