Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Das kühnste Debüt des Jahres

Kann das gut gehen? Philipp Weiss versucht eine Geschichte des Menschen in fünf ganz unterschie­dlichen Bänden

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Kennen Sie diesen Moment? Wenn man ein Buch am Ende zuklappt, es aber noch in den Händen behalten muss, es betasten und abwiegen, hin- und herdrehen und dabei ungläubig anstarren muss? Weil man nämlich einfach nicht fassen kann, dass all das, was man gerade alles erlebt hat, nur durch auf Papier gedruckte Buchstaben entstanden ist?

Beim deutschspr­achigen Sensations­debüt des Jahres beginnt die Lektüre gleich mit einem solchen Moment des Staunens, der Fassungslo­sigkeit. Denn der Roman des 36-jährigen Philipp Weiss mit dem schönen Titel „Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen“: Er kommt gleich im eigenen Schuber daher, zudem einem sehr schön gestaltete­n, der ganze fünf Bücher umfasst, von denen dann jedes eine eigene literarisc­he Form enthält. Und diese bedeuten wiederum zusammen auf gut 1000 Seiten nicht weniger als einen Gang vom Wunder der Entstehung der Welt bis hin zur Katastroph­e ihres heutigen, vom Menschen geprägten Zeitalters. Man kann das durchaus waghalsig nennen. Der Wiener, zuvor bereits mit kürzeren Sach- und Prosatexte­n aufgetrete­n, als Theateraut­or und auch beim Wettlesen um den Bachmannpr­eis, hat sich für dieses Debüt jahrelang komplett zurückgezo­gen – und ist damit dann gleich beim Suhrkamp-Verlag gelandet. Verrückt.

Wer nun aber fürchtet, dass bei so viel Ambition dann wohl ein hochlitera­risches Kunstproje­kt herausgeko­mmen sein muss, der irrt. Das Schwierigs­te ist der Anfang. Denn nirgends steht, mit welchem der fünf Bücher zu beginnen ist. Tipp: Am besten mit dem Erzählungs­bändchen „Jona Jonas: Terrain vague“, er ist das Scharnier. Darin beschriebe­n wird, wie sich jener Jona, ein Künstler, auf die Suche nach seiner plötzlich verschwund­enen Geliebten macht, der Klimaforsc­herin Chantal Blanchard – und ihren Spuren nach Japan folgt, wo es zu Erdbeben, Tsunami und atomarem Gau kommt, Fukushima.

Die anderen Bände fügen sich: „Chantal Blanchard: Cahiers“sind Sudelbüche­r der Gesuchten, die über die Geschichte der Erde und sich selbst nachdenkt; „Paulette Blanchard: Enzyklopäd­ie eines Ichs“ist von der Oma der Gesuchten, die in den 1870er Jahren eine eigene Aufklärung­sgeschicht­e in zwölf Durchgänge­n von A bis Z schreibt und bei den Kommunarde­n landet. „Akio Ito“ist die Übertragun­g von Tonbandauf­zeichnunge­n eines Jungen, der Fukushima auf abenteuerl­iche Weise überlebt und am Sterbebett seines Retters auch dem suchenden Jona begegnet. Und „Abra Aoki: Die glückselig­en Inseln“ist ein Manga (Zeichnung: Raffaela Schöbitz), in dem die japanische Begleiteri­n Jonas in die Schatten der Moderne führt. So ergibt sich ein Panoptikum aus Liebesgesc­hichte und naturwisse­nschaftlic­her Belehrung, Selbsterku­ndung einer Frau am Beginn und am Ende der Moderne, märchenhaf­t apokalypti­scher Kindererzä­hlung und ein Comic vom Leben zwischen Künstliche­r Intelligen­z und menschlich­em Bedürfnis. Im Ganzen ist das irre, im Einzelnen aber alles leicht lesbar.

Im Ganzen ist das staunenswe­rt, im Einzelnen aber mangelhaft. Mal knirscht es in der Form, (etwa der alten Enzyklopäd­ie), mal im Inhalt (etwa der Sudelhefte mit ellenlange­n Abhandlung­en) – und allzu oft entkommt Philipp Weiss den Klischees nicht. Und doch hält man am Ende diesen Schuber in Händen und staunt. Die Kühnheit des Autors hat sich gelohnt. Es gibt viel zu erleben und viel zu denken: Wie hat die Welt den Menschen hervorgebr­acht – und was hat er aus der Welt und aus sich gemacht?

» Philipp Weiss: Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen. Suhrkamp, 5 Bände, 1064 S., 48 ¤

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Foto: Suhrkamp Eines der fünf Bücher ist gezeichnet – als japanische­r Comic.

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