Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Die Christl sperrt das Löwen-Stüberl zu
Spieler und Trainer kamen und gingen. Christl Estermann ist geblieben. 25 Jahre lang führt sie die kleine Kneipe am Trainingsgelände. Jetzt macht sie Schluss. Endgültig. Vielleicht
München Das Löwen-Stüberl ist einer von diesen Orten, an denen das Leben irgendwann keine Lust mehr hatte, mit der Zeit zu gehen. Auf den Tischen stehen kleine MaggiFläschchen, falls der Leberkäse mit Ei und Kartoffelsalat für 6,20 Euro oder die „Tortellini-Tonnensauce“(was auch immer das sein mag) nachgewürzt werden müssen. Am Stammtisch wird Schafkopf gespielt. Inmitten von grauhaarigen Männern vor halb vollen Biergläsern sitzt die Chefin – und hat einen Lauf.
„Sind Sie der Journalist aus Augsburg? Haben Sie Zeit? Ich muss mir zuerst mein Geld zurückholen“, sagt sie unter dem Gelächter der anderen Kartler. Ein paar Minuten später beginnt Christl Estermann zu erzählen. Wie sie vor einem Vierteljahrhundert die kleine Kneipe am Trainingsgelände des TSV 1860 München übernommen hat. Die Löwen waren damals gerade in die Bayernliga abgestiegen und ein barocker, schnauzbärtiger Ex-Boxer und Großgastronom namens KarlHeinz Wildmoser entscheidet sich, den Traditionsklub aus dem Stadtteil Giesing wieder nach oben zu bringen. Er verpflichtet nicht nur einen kauzigen Trainer, der unter dem Namen „Werner Beinhart“in die Vereinsgeschichte eingehen wird. Er lotst auch die neue Wirtin an die Grünwalder Straße. „Du bist eine Löwin, Du kommst zu uns, hat der Herr Wildmoser zu mir gesagt“, erinnert sich die inzwischen 75-Jährige mit den blassblauen Strähnchen im Haar. Und so geschieht es.
Seitdem ist die Christl eine Art Familienoberhaupt. Sie hat fünf verschiedene Ligen und 25 Trainer kommen sehen – und wieder gehen. Am liebsten war ihr der Erste: Werner Lorant. Der hat in den 90er Jahren seinen Stammplatz im Stüberl. Nicht nur sein exzessiver EspressoKonsum ist gut fürs Geschäft. Auch die Spieler kommen regelmäßig vorbei, essen die legendären Schinkennudeln und spielen Karten. Smartphones gibt es ja noch nicht.
Hunderte Fotos an den Wänden der Kneipe erinnern an diese Jahre, als die Löwen von der Bayernliga bis in den Europapokal durchmarschierten. Und natürlich an die ganz große Zeit, als der legendäre Tor- wart Petar Radenkovic, der „Radi“, die Meisterschale in den Giesinger Himmel streckte. Lange her ist das alles. Aber nicht vergessen. Der TSV 1860 und seine Fans leben von ihren Erinnerungen – und die Christl auch. „Sie wird immer ein Teil des Löwenrudels bleiben“, sagt Präsident Robert Reisinger im Vorbeigehen. Das gilt auch für Willi Bierofka. Der 65-Jährige sitzt draußen auf einer verlebten Bierbank direkt neben dem Trainingsplatz und trinkt einen Cappuccino. In den Siebzigern hat er selbst für die Sech- ziger gespielt, in den Achtzigern war er Trainer. Heute steht sein Sohn Daniel an der Seitenlinie und Vater Willi schaut sich noch immer fast jedes Spiel im Grünwalder Stadion an. Auch unter der Woche kommt er oft vorbei und setzt sich in den Biergarten vor dem Stüberl. „Ohne die Christl kann man sich das alles nur schwer vorstellen“, sagt Willi Bierofka und deutet auf das kleine Lokal. „Sie ist mit vollem Herzen dabei und hat auch zur Mannschaft einen guten Draht.“Ein paar Meter entfernt betreten die Spieler gerade den Rasen. Viele von ihnen waren noch gar nicht geboren, als die Wirtin hier angefangen hat. Ende des Jahres will sie den Laden endgültig zusperren.
Schon ein paar Mal hat sie das versucht und ist dann doch immer wieder weich geworden. „Es heißt halt nicht umsonst: Einmal Löwe – immer Löwe“, sagt Christl Estermann. Sie zeigt auf den goldenen Löwen, den sie an einem dünnen Kettchen um den Hals trägt. „Ich hoffe nur, dass sie mich nicht wieder überreden“, fügt sie hinzu und haut dann mit der flachen Hand auf den Tisch, als wolle sie sich selbst disziplinieren, diesmal hart zu bleiben. Dann schaut sie Richtung Trainingsplatz und schnauft tief durch. „Aber ich werde bestimmt weiterhin oft hier sein, ich wohne ja nicht weit weg.“
Der Platzwart kommt rein und holt sich zwei Wurstsemmeln. Am Stammtisch wird es langsam unruhig. „Hast es dann, Christl?“, fragt einer der grauhaarigen Männer und mischt demonstrativ die Karten. „Bin schon da“, sagt die Wirtin, setzt sich an ihren Platz und winkt dem „Herrn Reporter“zum Abschied. „Also, servus dann“, sagt sie. Servus, Christl.
Nein, diesmal will sie sich nicht mehr überreden lassen