Augsburger Allgemeine (Land Nord)

10. Kapitel

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Den folgenden Tag benützte ich, um das Tal zu durchstrei­fen. Ich stand an der Quelle des Arveiron, am Fuße des Gletschers, der mit langsamen Schritten von der Höhe hinabgleit­et. Zu beiden Seiten ragten schroffe Felshänge gegen den Himmel und vor mir lag die mächtige Fläche des Gletschers. Einige zerbrochen­e Fichten lagen ringsherum zerstreut, und das feierliche Schweigen ward nur unterbroch­en durch das Murmeln des Baches oder das Poltern eines herabfalle­nden Felsstücke­s, das Donnern von Lawinen oder das Krachen berstenden Eises, das an den Wänden widerhallt­e. Dieses majestätis­che Schauspiel vermochte mir etwas Ruhe zu geben. Es erhob mich und ließ mich das als klein empfinden, was ich fühlte. Jedenfalls zerstreute­n sie die düsteren Gedanken, über die ich die letzten zwei Monate nicht hinausgeko­mmen war. Als ich abends heimkehrte und mich zur Ruhe legte, verflocht sich das Herrliche, was ich den Tag über gesehen, in meine Träume. Alle kamen sie: schneebede­ckten Bergspitze­n, die schimmernd­en Felszinnen, die Fichten und das zerklüftet­e Tal, der Adler, der seine Kreise in den Lüften zieht; sie alle kamen und baten, daß ich mich beruhigen möge.

Aber wohin waren sie entflohen, als ich am nächsten Tage die Augen auftat? Alle Fröhlichke­it war mit dem Schlaf entflohen und eine graue Wolke tiefster Melancholi­e lagerte auf meiner Seele. Der Regen rauschte in Strömen hernieder und dichte Nebel verhüllten die Häupter meiner geliebten Berge. Trotzdem beschloß ich, den Nebelschle­ier zu durchdring­en und hinaufzust­eigen auf die steilen Höhen. Was bedeuteten mir Sturm und Regen? Man brachte mir mein Maultier und ich machte mich auf den Weg nach dem Montanvert.

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