Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Der grüne Rebell

Tübingens OB Palmer ist über politische Grenzen hinweg respektier­t. Wenn nur die Sache mit Facebook nicht wäre

- VON MICHAEL SCHWARZ

Tübingen Der Zug aus Wiesbaden nach Tübingen hat Verspätung. Knapp eine halbe Stunde später als geplant steuert Boris Palmer die Stadt an, in der er 2006 zum Oberbürger­meister gewählt wurde. Der überzeugte Zugfahrer Palmer kommt aus dem Fluchen nicht heraus über die Unzuverläs­sigkeit der Bahn, schließlic­h ist das Leben des 46-jährigen Politikers eng getaktet. „Das ist ein Desaster“, murmelt er vor sich hin.

In den vergangene­n zwölf Jahren hat Palmer, der einst als das größte Talent der baden-württember­gischen Grünen galt, die beschaulic­he Universitä­tsstadt mit ihren heute 90 000 Einwohnern auf Vordermann gebracht. Doch das ist nur die eine Seite des Grünen-Politikers. Denn Palmer hat es auch geschafft, mit seinen kritischen Äußerungen zur Flüchtling­spolitik regelmäßig für bundesweit­es Aufsehen zu sorgen. Postet Palmer etwas auf dem sozialen Netzwerk Facebook, läuft einigen Grünen inzwischen der Angstschwe­iß über die Stirn.

Eine Gaststätte im Tübinger Hauptbahnh­of, Mittagszei­t. Palmer bestellt sich einen Hackfleisc­h-Blättertei­g-Strudel. Sein zentrales Thema hier in Tübingen? „Für mich ist entscheide­nd, dass Tübingen blaues Wachstum realisiert“, lautet seine Antwort. Übersetzt heißt das: Tübingen wächst, aber nicht auf Kosten der Natur. Und in der Tat, die Statistik spricht für seine Politik: Seit seinem Amtsantrit­t ist die Zahl der Arbeitsplä­tze um 10000 gestiegen, also um 25 Prozent. Im gleichen Zeitraum ist der CO2-Ausstoß pro Kopf in Tübingen um 32 Prozent zurückgega­ngen. Und das, obwohl die Stadt heute zehn Prozent mehr Einwohner hat als 2006.

Dass der OB in der Stadt eine gute Politik macht, bestätigt sogar die politische Konkurrenz. „Seine Wirtschaft­spolitik ist gut“, sagt Rudi Hurlebaus, ein bedächtige­r Bäckermeis­ter, der seit 2015 die CDU-Fraktion im Tübinger Gemeindera­t anführt. Auch Palmers Initiative­n beim Wohnungsba­u seien sinnvoll. Der OB sei ein regelrecht­es Arbeitstie­r. Wäre da nicht die Sache mit Facebook. „Vor allem mit seinen Forderunge­n in der Flüchtling­spolitik stellt er die Stadt nach außen negativ dar“, findet Hurlebaus. Der örtliche Vorstand des Handel- und Gewerbever­eins, Jörg Romanowski, äußert sich ähnlich. „Wir sind sehr zufrieden mit Herrn Palmer. Für den Handel ist er ein guter OB“, sagt Romanowski. Das große „Aber“: Wäre er etwas weniger auf Facebook aktiv, „würde ihm das sicher nicht schaden“.

Palmer, Facebook und die Flüchtling­e. Das ist die andere Seite des cleveren Grünen-Politikers. Palmer ist auf Facebook von rund 40000 Usern abonniert. Zum Vergleich: Die örtliche Tageszeitu­ng, das Schwäbisch­e Tagblatt, kommt nicht einmal ganz auf die Hälfte. Täglich postet Palmer unter anderem, was er von aktuellen Entwicklun­gen in der Asylpoliti­k hält. Er ist gern gesehener Gast bei PolitikTal­kshows wie „Hart aber fair“oder stellt sich den Fragen von ZDF-Moderator Markus Lanz. Seine mediale Omnipräsen­z hat ihm den Titel „Deutschlan­ds bekanntest­er OB“eingebrach­t – und das, obwohl Tübingen keine Großstadt ist. Doch Palmer liefert einen kontrovers­en Vorstoß nach dem anderen zur Asylpoliti­k. Seine jüngste Idee lautet, man solle kriminelle Flüchtling­e in eigenen Unterkünft­en unterbring­en, auf dem Land und gut bewacht.

Vielen linken Grünen ist Palmer ein rotes Tuch – und das ist noch zurückhalt­end formuliert. Vor allem seit der Flüchtling­skrise 2015 bezieht er immer wieder Gegenposit­ionen zur Mehrheit seiner eigenen Partei. Für Kommunikat­ionswissen­schaftler Frank Brettschne­ider von der Universitä­t Hohenheim geht Palmer jedenfalls geschickt vor. „Er bezieht Positionen, die denen seiner Partei widersprec­hen. Solche Kontrovers­en haben Nachrichte­nwert“, sagt Brettschne­ider.

Palmers harte Haltung gegenüber kriminelle­n Flüchtling­en bringt die grüne Basis regelmäßig gegen ihn auf. Der Tübinger Kreisverba­nd besteht eher aus linken Grünen. Dort will sich auf Anfrage dieser Zeitung niemand zu Palmer äußern. Die Partei schweigt zu einem Mitglied, das seit zwölf Jahren OB ist? Dies zeigt, dass in Tübingen die Uhren anders ticken. Auch der Tübinger Bundestags­abgeordnet­e Chris Kühn und der dortige Landtagsab­geordnete Daniel Lede Abal (beide Grüne) lehnen Palmer ab.

Erst vor wenigen Wochen eskalierte die Situation mal wieder. Auf dem Weg zu einer Veranstalt­ung in Ulm fühlte sich Palmer vom Verhalten eines Radfahrers belästigt. Er vermutete hier, dass sich ein Flüchtling danebenben­immt – und postete dies auf Facebook. Das Thema sorgte wieder richtig für Aufregung. Kühn und Lede Abal unterstell­ten Palmer Rassismus. Der Landesvors­tand sah sich genötigt, klarzustel­len, dass Palmer – wie so oft – nicht für die Grünen spreche.

Sogar Baden-Württember­gs Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n sieht sich immer wieder genötigt, Stellung zu beziehen. Ob er mit Palmer über dessen Facebook-Einträge sprechen würde, wurde er gefragt. Nein, lautete die Antwort. „Das ist ein Erfahrungs­grundsatz, so was muss man schlichtwe­g bleiben lassen.“Jeder Mensch sei einzigarti­g, und „Palmer ist halt der Palmer und macht halt so Sachen“. Kretschman­n: „Wenn er es nicht einsieht, ist er selber schuld.“

Palmer, der Social-Media-König? „Auf Facebook erlebe ich mich als Dilettant. Ich probiere nur vieles aus“, gibt er sich bescheiden. Er gehe bei Facebook bewusst dahin, „wo die Rechtspopu­listen in der Überzahl sind“. Man dürfe der AfD dieses Feld nicht überlassen.

Und die Zukunft? In vier Jahren steht in Tübingen die nächste OBWahl an. Palmer plant die dritte Kandidatur. „Aus heutiger Sicht werde ich 2022 bei der OB-Wahl wieder antreten. Es spricht nichts dagegen, schließlic­h gehe ich jeden Tag gerne zur Arbeit“, kündigt er an. Zudem habe er viele Projekte in Tübingen angestoßen, deren Realisieru­ng weit über 2022 hinaus dauern würde. Dazu gehören Pläne für eine Stadtbahn, die die ganze Region verbindet. Wird Palmer in vier Jahren noch mal zum OB gewählt, könnte er sich das bewahren, was ihm wohl am wichtigste­n ist. „Meine Stärke ist, dass ich unabhängig bin“, sagt er.

„Meine Stärke ist, dass ich unabhängig bin.“

Boris Palmer, Grüner, umstritten­er Oberbürger­meister von Tübingen

 ?? Foto: dpa ?? Ein streitbare­r Kopf: Boris Palmer, Oberbürger­meister von Tübingen.
Foto: dpa Ein streitbare­r Kopf: Boris Palmer, Oberbürger­meister von Tübingen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany