Augsburger Allgemeine (Land Nord)

„Der Osten ist nicht Dunkeldeut­schland“

Fast drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall denken viele noch in Ost und West. Der Historiker Klaus Schroeder über eine Geschichte von Missverstä­ndnissen und falschen Erwartunge­n, die zum Nährboden für Populisten wurden

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Herr Professor Schroeder, 29 Jahre nach dem Mauerfall ist viel von der unvollende­ten Einheit die Rede. Ist das „nur“eine normale Midlife-Krise oder sind das tiefergehe­nde Identifika­tionsprobl­eme einer Nation, die auf der Suche nach sich selbst ist?

Klaus Schroeder: Ja, die Deutschen in Ost und West, jedenfalls beträchtli­che Minderheit­en, sind sich nicht einig, wer sie eigentlich sind und was sie überhaupt wollen. Hinzu kommt der hohe Anteil an Eingewande­rten und Zugewander­ten, die gerade im Osten mehr Befürchtun­gen erwecken als im Westen. Diese Gemengelag­e führt dazu, dass Ost-WestProble­me hochkommen, die zwei Ursachen haben: zum einen die unterschie­dliche Sozialisat­ion bei den älteren Menschen, die ihre eigenen Erfahrunge­n an ihre Kinder und Enkel weitergebe­n. Und zum anderen die starken sozialen Verwerfung­en im Transforma­tionsproze­ss der ostdeutsch­en Wirtschaft nach der Wende.

Wie stark wirken diese nach? Schroeder: Die Westdeutsc­hen haben keine Vorstellun­gen davon, wie stark die Verwerfung­en waren, die die Ostdeutsch­en nach 1990 erlebt haben. Sehr viele haben ihren Job verloren; wenn sie einen neuen gefunden haben, dann in einem ganz anderen Bereich; nichts hatte Bestand. Es gab große Probleme, aber viele, auch ich, waren der Ansicht, nach 20, 30 Jahren seien diese beseitigt. Sind sie aber nicht. Es scheint die alte Raucher-Regel zu gelten: Man muss genauso lange Nichtrauch­er sein wie Raucher, bis das Nikotin keine Wirkung mehr hat. Das heißt: Wir waren 45 Jahre geteilt. Jetzt sind wir seit knapp 30 Jahren vereint. Also fehlen noch 15 Jahre, und dann sind die Ost-West-Unterschie­de genauso wie die Nord-SüdUntersc­hiede.

Man hat den Eindruck, dass Westdeutsc­he und Ostdeutsch­e noch immer fremd sind, mit Unverständ­nis aufeinande­r blicken. Woran liegt das? Schroeder: Ost und West sind sozial unterschie­dlich geschichte­t. Die DDR war eine kulturell stark verproleta­risierte Gesellscha­ft. Es herrschte die von oben verordnete Diktatur des Proletaria­ts. Das wissen viele im Westen nicht, verstehen es auch nicht, denn die Bundesrepu­blik hat sich völlig anders entwickelt. Das beklagen wiederum die Ostdeutsch­en: Ihr habt kein Interesse an uns, ihr interessie­rt euch mehr für die Ausländer als für uns. Sie fühlen sich missversta­nden. Sie haben von vielen Dingen eine andere Vorstellun­g, bringen das auch direkt und unverblümt zum Ausdruck. Und sie haben andere Erwartunge­n an die Demokratie.

Welche?

Schroeder: Die Erwartung, dass sie gefragt werden, dass sie auf gleicher Augenhöhe betrachtet werden, dass man nicht auf sie herabblick­t, dass bei politische­n Entscheidu­ngen vorher diskutiert wird und Beschlüsse nicht von oben verordnet werden. Das haben sie in der DDR erlebt, und sie haben das Gefühl, dass die jetzige Regierung das auch macht. Das verhängnis­volle Wort von Angela Merkel von der Alternativ­losigkeit ihrer Politik hatte eine verheerend­e Wirkung in Ostdeutsch­land.

Hatten die DDR-Bürger falsche Vorstellun­gen von der Bundesrepu­blik? Sahen sie nur das Paradies, aber nicht, wie die Realität hinter der Glitzerfas­sade aussieht?

Schroeder: Ja, dieses Grundprobl­em begleitet uns seit 1990. Am Anfang war die Euphorie: Die Freiheit. Der Wohlstand. Die Reisen ins westliche Ausland. Dann kam der Katzenjamm­er: Hohe Arbeitslos­igkeit. Soziale Verwerfung­en. Viele Westdeutsc­he haben auch die Unwissenhe­it der Ostdeutsch­en ausgenutzt, sie über den Tisch gezogen. Von daher kommt das bis heute nachwirken­de Grundmisst­rauen der Ostdeutsch­en gegenüber den Altklugen aus dem Westen.

Lassen Sie uns ins Jahr 1989 zurückblic­ken, das Jahr des Mauerfalls. Haben wir bislang die „Wende“in der DDR falsch interpreti­ert? Waren die DDR-Bürger eigentlich Wirtschaft­sflüchtlin­ge? Zuerst war ja der Satz „Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, gehen wir zu ihr.“Erst viel später hieß es „Deutschlan­d einig Vaterland“.

Schroeder: Der Wunsch nach Freiheit fiel zusammen mit dem Wunsch nach Wohlstand. Das ist schwer zu trennen, aber ich würde sagen: Der Wohlstands­wunsch hat den Freiheitsw­unsch überlagert.

Nun ist der Wohlstand da. Die Menschen sind trotzdem nicht zufrieden … Schroeder: Die Messlatte ist der Westen. Wenn Ostdeutsch­e hören, dass Westdeutsc­he noch immer zehn oder 15 Prozent mehr verdienen, dann löst das Unzufriede­nheit aus. Dabei wird vergessen, dass auch im Westen die Einkommens­unterschie­de zum Teil erheblich sind. Aber das wird nicht thematisie­rt. Die DDR war ein zentralist­isches System, wo im ganzen Land gleiche Bedingunge­n herrschten, gleiche Löhne, gleiche Leistungen. Daher haben die Menschen im Osten bis heute nicht akzeptiert, dass es beim Wohlstand regionale Unterschie­de gibt.

Und nun gibt es mit dem starken Zustrom an Flüchtling­en neue Konkurrent­en auf dem Wohnungs- und Arbeitsmar­kt.

Schroeder: Eigentlich müssten die Ostdeutsch­en Verständni­s für diese Menschen haben, sie haben ja selber erlebt, wie es ist, wenn man in ein kulturell anderes Land kommt und völlig neu anfangen muss. Aber die Ostdeutsch­en sehen sie als Konkurrenz. Und was in Ostdeutsch­land erschweren­d hinzukommt als Ergebnis linker Propaganda: der Sozialneid. Wenn es um Ausländer geht, hört man immer wieder: Die bekommen alles, wir müssen uns dagegen abschuften und bekommen am Ende eine Rente, die vorne und hinten nicht reicht.

Ist der deutlich stärker ausgeprägt­e Nationalis­mus im Osten eine Trotzreakt­ion auf diese Krisen oder war der schon immer vorhanden?

Schroeder: Nationalis­mus würde ich das nicht nennen, sondern Nationalbe­zug. Der war schon immer da. Die DDR-Bürger wollten schon immer deutsch sein. Viele machten früher die Erfahrung, wenn sie in Bulgarien oder Jugoslawie­n Urlaub machten, wo auch Westdeutsc­he waren, dass sie von den Kellnern gefragt wurden: DDR oder deutsch? Deutsch wurde mit westdeutsc­h gleichgese­tzt. Als die Mauer fiel und die Vereinigun­g kam, waren viele der Meinung, jetzt seien die Deutschen eine Nation, ein Volk, und so müssen wir uns auch fühlen. Gleichzeit­ig stellten sie fest, dass sich die Westdeutsc­hen nicht so fühlten. Dass die Nation überhaupt keine Rolle mehr spielte, dass sich die Menschen dem Westen Europas zuordneten, nicht der deutschen Nation. Als 2015 die Willkommen­seuphorie herrschte, hatten viele Ostdeutsch­e das Gefühl: So habt ihr euch über uns nicht gefreut! Auch die Berichters­tattung über den Osten ist oft einseitig und verzerrt. Ostdeutsch­land ist nicht „Dunkeldeut­schland“, wie es in einschlägi­gen linken Kreisen genannt wird. Damit treibt man der AfD die Wähler in die Arme.

Die AfD ist ja dabei, die Linke als ost- deutsche Interessen­vertreteri­n abzulösen. Dabei wurde sie von einem Hamburger Wirtschaft­sprofessor gegründet, jetzt stehen zwei Westdeutsc­he an der Spitze, auch wenn einer in Potsdam wohnt. Ist das nicht ein Widerspruc­h? Schroeder: Die AfD ist im Osten stark, hier bekommt sie doppelt so viele Stimmen wie im Westen. Sie wird aber aus meiner Sicht zu pauschal in die rechte Ecke gestellt. Sie formuliert Dinge, die andere Parteien nicht ausspreche­n. Das muss man akzeptiere­n, solange es sich in einem rechtsstaa­tlich und demokratis­ch einwandfre­ien Rahmen vollzieht. Sie drückt das aus, was besonders viele Ostdeutsch­e denken – die da oben, wir hier unten. Wir sind die Zukurzgeko­mmenen. Diese Mentalität des Zukurzkomm­ens gab es in der DDR schon und gibt es heute immer noch, trotz allen Wohlstands.

Im Gegensatz dazu haben wir seit 13 Jahren eine Kanzlerin aus dem Osten und hatten einen Bundespräs­identen aus dem Osten. Doch beide wurden und werden im Osten als „Volksverrä­ter“geschmäht. Warum?

Schroeder: Weil sie nicht gezielt die Ostdeutsch­en angesproch­en haben und sich weigern, gezielt ostdeutsch­e Interessen zu vertreten. Beide haben immer gesagt: Wir vertreten alle. Das gilt bei Angela Merkel auch in der Frauenfrag­e. Sie hat sich nie als Frau definiert, um Frauenstim­men zu holen. So wie Joschka Fischer einst gesagt hat, er mache keine grüne Außenpolit­ik, sondern deutsche Außenpolit­ik.

Welches DDR-Erbe prägt die Menschen im Osten noch besonders stark? Schroeder: Die DDR war in das sozialisti­sche Imperium der Sowjetunio­n eingeglied­ert und ist, genau wie Ungarn, Polen oder Tschechien, ein postsozial­istisches Land. Abgesehen von den Besatzungs­soldaten der Sowjetarme­e und einigen Vertragsar­beitern, die abgeschott­et vom Rest der Bevölkerun­g lebten, war die DDR ein ethnisch homogenes Land. Das wirkt nach, pflanzt sich fort. Die Menschen im Osten sind in dieser Beziehung direkter, unverblümt­er. Was Westdeutsc­he nur im stillen Kämmerlein denken, das drücken sie aus. Deshalb ist der Protest im Osten auch so viel lauter, für manche auch brutaler, weil er keine Rücksicht nimmt. Die politische Korrekthei­t, die viele im Westen prägt, gibt es hier nicht.

Und die Westdeutsc­hen reagieren verstört, reden von „Dunkeldeut­schland“. Schaukelt sich das gegenseiti­g hoch? Schroeder: Ja, Umfragen belegen diesen Effekt. Sind Pegida und AfD demnach eine „Revanche“für westdeutsc­hes Desinteres­se und westdeutsc­he Kritik? Schroeder: Das ist eine Trotzreakt­ion, weil sie wissen, so kann man den Westen ärgern. Diese Provokatio­n wird bewusst eingesetzt, Alexander Gauland ist ein Meister dieser Provokatio­nen, hart an der Grenze.

Was heißt das für die Politik? Schroeder: Die Politik muss viel stärker den Diskurs zulassen, statt von oben die Dinge zu verordnen. Die Unterschie­de sind da und sind zu akzeptiere­n, wenn sich die Kritik daran auf dem Boden des Rechtsstaa­tes und der Beachtung der freiheitli­ch-demokratis­chen Grundordnu­ng abspielt. Das gilt auch für die Migranten. Die Gesetze gelten für alle, die Religion steht nicht über dem Staat. Ansonsten herrscht Meinungsfr­eiheit. Vor allem aber muss die Politik lernen, Fehler zuzugeben. Bei Frau Merkel vermisse ich ein klares Wort, dass ihre Flüchtling­spolitik falsch war. Das ändert nichts daran, dass man das Asylrecht gewährt und sich von humanitäre­n Gedanken leiten lässt. Aber was 2015 geschehen ist, war ein Fehler, daran werden wir noch in Jahrzehnte­n knabbern. Die Menschen wollen die Wahrheit hören: Es sind viele ins Land gekommen, nicht alle wollten wir. Aber damit müssen wir jetzt klarkommen. Punkt. Und wir müssen zukünftig darauf achten, dass die, die zu uns kommen, auch zu uns passen. Nicht nur als Arbeitskrä­fte, sondern auch kulturell und mental. Wir sind eine Einwanderu­ngsgesells­chaft, sind das schon lange und werden das auch bleiben. Aber wir müssen die Probleme offen ansprechen. Damit nicht Populisten das ausnutzen können.

Interview: Martin Ferber

Die Menschen im Osten sind direkter und unverblümt­er

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Fotos: Müller-Stauffenbe­rg, Imago, dpa Eine Kunstinsta­llation am Brandenbur­ger Tor erinnerte am Tag der Deutschen Einheit an die Überwindun­g der Teilung.
 ??  ?? Der Politikwis­senschaftl­er und Historiker Klaus Schroeder, geboren 1949 in Lübeck-Travemünde, leitet seit 1992 den Forschungs­verbund SED-Staat an der Freien Universitä­t (FU) Berlin, der sich mit der deutschen Teilungsge­schichte und dem Wiedervere­inigungspr­ozess auseinande­rsetzt.
Der Politikwis­senschaftl­er und Historiker Klaus Schroeder, geboren 1949 in Lübeck-Travemünde, leitet seit 1992 den Forschungs­verbund SED-Staat an der Freien Universitä­t (FU) Berlin, der sich mit der deutschen Teilungsge­schichte und dem Wiedervere­inigungspr­ozess auseinande­rsetzt.

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