Augsburger Allgemeine (Land Nord)

War früher wirklich alles besser?

Für die Bertelsman­n-Stiftung erforscht Isabell Hoffmann die Stimmung der Europäer: 67 Prozent der EU-Bürger sagen, früher waren die Zeiten besser. Was hinter der Nostalgie steckt

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Frau Hoffmann, Sie haben fast 11 000 Europäer für eine große Studie über ihre Meinung zu Europa befragt. Ein Ergebnis ist, dass die meisten Europäer nach dem Motto „früher war alles besser“, die Vergangenh­eit verklären. Woran machen Sie das fest?

Isabell Hoffmann: Wir haben gemessen, ob die Menschen in Europa ein sentimenta­les Verhältnis zur Vergangenh­eit haben. Wir haben dabei ein wirklich sehr hohes Niveau festgestel­lt: Über zwei Drittel der Europäer sagen, die Welt sei früher ein besserer Ort gewesen. Das eine gewisse Nostalgie vorherrsch­t, ist nicht ungewöhnli­ch. Menschen haben immer das Talent, aus einer grässliche­n Gegenwart eine goldene Vergangenh­eit zu machen. Aber die Werte, die wir gemessen haben, sind sehr hoch und haben durchaus eine politische Relevanz.

War Ihre Frage, „Würden Sie der folgenden Aussage zustimmen? Die Welt war früher ein besserer Ort“, aber nicht viel zu allgemein gestellt, um ein aussagekrä­ftiges Bild zu erhalten? Hoffmann: Nein. Wir messen an dieser Stelle, welche impulsive Antwort die Menschen auf diese Frage haben. Den nostalgisc­hen Reflex. Das ist keine Antwort, bei der man lange abwägt, ging es einem selbst vor 20 Jahren wirklich besser oder nicht. Nostalgie entsteht bei Erinnerung­en an Zeiten, in denen es einem gut ging und man von lieben Menschen umgeben war. Laut Psychologe­n stabilisie­ren solche nostalgisc­he Reflexe die Menschen innerlich. Sie sind Schutzmech­anismen in Momenten, in denen man sich irritiert oder verängstig­t fühlt. Wenn nun 67 Prozent der Europäer sagen, die Welt sei früher ein besserer Ort gewesen, heißt das nicht, sie wollten am liebsten in einer Zeitkapsel zurück in die Vergangenh­eit. Es heißt schlicht, dass es heute ein hohes Maß an Verunsiche­rung gibt.

Sie haben fünf EU-Staaten näher untersucht. Wo liegen die Unterschie­de? Hoffmann: Zunächst fragen wir in allen europäisch­en Ländern in deren Sprachen nach. Bei der näheren Betrachtun­g von fünf EU-Staaten sehen wir, dass es große Unterschie­de gibt. Die Italiener sind mit 77 Prozent ganz besonders nostalgisc­h. Die Polen sind mit 59 Prozent und die Deutschen mit 61 Prozent weniger nostalgisc­h.

Wie erklären Sie sich das? Hoffmann: Die insgesamt hohen Werte spiegeln die vielen politische­n, finanzwirt­schaftlich­en und sozialen Krisen und Veränderun­gen wider, die wir in Europa in den vergangene­n Jahren erlebt haben. Dazu kommen die technologi­schen und gesellscha­ftlichen Veränderun­gen. Allen ist klar, wir leben in einer Zeit der Umbrüche, ohne zu wissen, was sie für den Einzelnen bedeuten. Die Deutschen sind trotz einer guten wirtschaft­lichen Lage beim Blick in diese Zukunft verunsiche­rt, in Italien können wir aus dem sehr hohen Nostalgiew­ert auch die gegenwärti­ge Krise des Landes ableiten.

Welche Lehren könnte die Politik aus Ihrer Studie ziehen?

Hoffmann: Zum einen können wir das hohe Maß an Verunsiche­rung tatsächlic­h messen. Die Nostalgie drückt dabei auch ein Bedürfnis nach Stabilität aus. Doch Kräfte wie die Populisten benutzen diese Stimmung, um noch mehr Unruhe zu stiften. Dabei sollten sich alle politische­n Akteure vergegenwä­rtigen, dass diese hohe Verunsiche­rung reale Konsequenz­en hat und dass sie dafür Strategien entwickeln sollten. Es schließt sich nicht aus, das Bedürfnis nach Orientieru­ng, nach Zugehörigk­eit und Identität anzusprech­en und es mit einer positiven konstrukti­ven Vision für die Zukunft zu verbinden. Vision, Sprache und politische­s Handeln sollte dabei glaubwürdi­g in Einklang stehen. Wir sehen in unseren Erhebungen, dass sehr viele Menschen für eine konstrukti­ve und kooperativ­e Zukunftsrh­etorik sehr aufgeschlo­ssen sind. Damit werden auch heute schon in Europa Wahlen gewonnen.

Sie messen aber in Ihrer Studie auch eine sehr große Skepsis beim Thema Zuwanderun­g: Über zwei Drittel aller Europäer glauben nicht an die Integratio­nsbereitsc­haft von Zuwanderer­n ... Hoffmann: Wir sehen in all unseren Untersuchu­ngen, dass die Themen Migration und Terrorbekä­mpfung für Europäer mit Zukunftsso­rgen besonders dringlich erscheinen. Die Skepsis an der Integratio­nsbereitsc­haft ist einerseits sehr hoch. Zugleich sagt die Mehrheit aber auch, dass sich Einwanderu­ng positiv auf die Wirtschaft und das kulturelle Leben auswirkt. Deshalb ist es richtig, wenn die Politik das Thema Zuwanderun­g nicht eindimensi­onal behandelt. Wir haben zum Beispiel auch gefragt, wen wollen die Menschen als Nachbarn haben. Über 70 Prozent hätten kein Problem damit neben einem Migranten zu wohnen. Fast die gleichen Zahlen erhalten wir übrigens auch zu Rauchern als Nachbarn. Interview: Michael Pohl

Isabell Hoffmann, 41, leitet bei der Bertelsman­n-Stiftung das Projekt Eupinions. Die Studien gibt es unter eupinions.eu

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Fotos: Imago, dpa (2) Gute alte Europa-Zeiten: Bis in die Achtzigerj­ahre war das Thema Europa ein Gassenhaue­r mit dem Hans-Joachim Kulenkampf­f bei „Einer wird gewinnen“Traumquote­n erzielen konnte. Im Jahr 2002 feierten die Griechen noch die Euro-Einführung und 2007 bejubelten die Polen euphorisch die Grenzöffnu­ng.
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