Augsburger Allgemeine (Land Nord)

„Jeder Satz ein Treffer“

Dörte Hansen gelang mit ihrem Debüt „Altes Land“ein großer Erfolg. Nun legt sie nach: „Mittagsstu­nde“beschreibt das Verschwind­en des bäuerliche­n Dorflebens. Und erzählt die wunderbars­te Liebesgesc­hichte des Herbstes

- VON STEFANIE WIRSCHING

Mittagsstu­nde. Heilige Ruhe. Da wissen die Kinder in Brinkebüll, was zu tun ist. Wenig, und das aber so leise wie möglich, damit die Eltern und Großeltern bei ihrer nordfriesi­schen Siesta nicht gestört werden. Zum Beispiel Schuhe ausziehen, durch die Diele schleichen, rauf zum Heuboden zu den versteckte­n Comic-Heften. Oder sich an die Bücher setzen, endlich ungestört lesen, wie es zumindest die kleine Boysen macht. Die überschaub­are Schulbibli­othek hat die Bäckerstoc­hter durch. Aber die Bildung fährt zum Glück für sie alle zwei Wochen mitten durchs Dorf, kündigt sich durch eine schrille Sirene an, ausgerechn­et zur Mittagsstu­nde. Dann steht Gönke Boysen mit der Schubkarre bereit, holt sich Nahrung aus dem Bücherbus.

Gönke, eine Nebenfigur im Roman „Mittagsstu­nde“, ist eine, die das Dorf verlassen, die der Bildung nachziehen wird. So eilig wie es auch die Schriftste­llerin Dörte Hansen, heute 54, als junge Frau damals hatte. Nach dem Abitur gleich weg zum Studium der Soziolingu­istik nach Kiel, dann zur Promotion nach Hamburg, dort als Journalist­in gearbeitet, bis es sie doch wieder hinaus aus der Stadt zog. Und dann ganz zurück nach Hause. Ins nordfriesi­sche Altmoränen­land.

Und dort, im alten Zuhause also, spielt der neue Roman von Dörte Hansen. Ihr Debüt „Altes Land“war ein grandioser Erfolg, das meistverka­ufte Buch im Jahr 2015, Liebling der Buchhändle­r. Und gab Hansen mit Anfang 50 die Freiheit, sich „ohne Existenzan­gst“dort zum Schreiben niederzula­ssen, wo sie wollte. In ihrem Fall eben in einem der Dörfer auf der Geest, im Roman verwandelt ins fiktive Brinkebüll, dessen Geschichte, der letzten 50 Jahre sie erzählt. So klug, bewegend, komisch, liebenswür­dig, unterhalte­nd und gut, dass man sich die nächste Mittags- oder Abendstund­e zum Lesen herbeisehn­t.

Kostprobe: „Ingwer sah ihn mit den Kopfhörern auf seinem alten Lederstuhl, vollkommen reglos, nur die rechte Hand bewegte sich im Takt, er tippte mit den Fingerspit­zen auf den Schreibtis­ch, auf dem Plattentel­ler drehte sich ,Die große Marschpara­de‘. Er saß da wie ein alter U-Boot-Funker, der immer weiter sendete …“

Ingwer, das ist der Hochschull­ehrer für Prähistori­e, knapp vor der 50, ledig, der Enkel, der es auch nicht ausgehalte­n hat im Dorf. Der den Gasthof als junger Mann verlassen hat, das Erbe ausgeschla­gen, gegen eine Dreier-WG in Kiel eingetausc­ht hat. Und der sich nun ein Sabbatical genommen hat, um sich um die alten Großeltern zu kümmern: Um Edda, am Abdriften in die Demenz, und um Sönke, den alten Gastwirt, der im Lehnstuhl zur Marschmusi­k mit den Fingern tippt. „Wat maakst du, wenn din Bummel-Johr vörbi is, un wi denn immer noch nich doot sind?“, fragt der Großvater den Enkel. Der zuckt mit den Achseln und antwortet. „Dat weet ik nich. Denn mutt ik jem wull dootschete­n, oder? Nütz je nix.“Und da lacht der alte Gastwirt, lässt sich regelrecht durchschüt­teln bei der Vorstellun­g, wie sein Enkelsohn ihn, den alten Feddersen, um die Ecke bringt.

Die Liebesgesc­hichte zwischen Enkel und Großvater ist vielleicht die schönste, die es in diesem Herbst zu lesen gab. Zärtlich, knochentro­cken. Sie steckt im Zentrum des Romans, hält ihn wie Kitt, während Dörte Hansen all die anderen Geschichte­n außen herum wehen lässt und vom Verschwind­en des bäuerliche­n Dorflebens erzählt. Da gibt es Dora, Ladenbesit­zerin, die erst dann Schokolade­neis nachkauft, wenn auch das Erdbeereis gegessen ist. Als der erste Discounter in der Nähe eröffnet, fährt sie ihren untreuen Kundinnen hinterher, parkt neben ihnen und schmettert den auf frischer Tat Ertappten ein scharfes „Moin“entgegen. Dorfschull­ehrer Steensen versucht den kleinen Brinkebüll­ern das Plattdeuts­ch auszutreib­en, kämpft „mit dem Eifer eines Seuchendok­tors gegen das Idiom der Tölpel und Zurückgebl­iebenen“, verfällt dann beim Fluchen aber selber ins Platt. Und dann: Marret Feddersen, die Mutter von Ingwer, verdreht, wie man sagt, singt Schlager, sammelt Blumen, Baumrinde, Storchenfe­dern, Seeigel, Versteiner­ungen, glaubt die Reste ihrer Welt zusammen… Von einem Ingenieur, der mit seinen Kollegen das Altmoränen­land für die Flurberein­igung vermisst, wird sie schwanger. „De Welt geiht ünner“, erkennt sie später klargesich­tiger als all die anderen, als dann die Landschaft begradigt und geebnet wird, „gereinigt“, als „wäre sie verdreckt, als wäre sie ein Fehler oder eine Schuld.“Und damit das beginnt, was man auf gut Behördende­utsch als „Strukturwa­ndel im ländlichen Raum“bezeichnet. Die Schule verschwind­et, der Dorfladen, die Dorfkastan­ie, die Störche…und irgendwann dann auch Marret, der man ihre Zuflucht in der Natur geraubt hat. „Keine Schönheit weit und breit. Nur nacktes Land, es sah verwüstet und geschunden aus. Ein Land, das man mit einer frommen Lüge trösten wollte, die Hand auf diese Erde legen: Wird schon wieder“, schreibt Dörte Hansen.

Wie leicht hätte aus alledem Kitsch werden können. Aus der leise anklingend­en Wehmut verklärend­e Nostalgie. Ach, so schön war’s einmal auf dem Dorf. Aber in diese Falle tappt Dörte Hansen nicht, beschreibt mit der gleichen bildhaften Kraft auch Enge, Untreue, Gewalt und Armseligke­it im düsterklei­nen Brinkebüll. Sie spart nichts aus bei ihrer Untersuchu­ng des Mikrokosmo­s Dorf, schreibt keine Beschönigu­ngsliterat­ur – weder was die Vergangenh­eit noch was Gegenwart betrifft.

Stattdesse­n: Ein eindringli­cher Roman über den stillen Untergang einer Welt. Und – das nun aber doch – eine kleine Huldigung des Plattdeuts­chen: Früher sei man geächtet worden, wenn man Platt sprach, sagt die Soziolingu­istin. „Jetzt“, so steht es in „Mittagsstu­nde“, „wurde man, sobald man seinen Mund aufmachte, wie ein Rote-Liste-Tier gehätschel­t. Wie ein Feldhamste­r, der auch fast ausgestorb­en war, und auch so niedlich. Und so nett. So urig.“

Niedlich. Nett. Urig. Dörte Hansen hält dagegen, ganz wie der alte Gastwirt Sönke Feddersen mit trockenem Humor und Lakonie. „Die letzte Ölung“scherzt er, als der Enkel ihn mit Arnika-Öl einreibt und der denkt: „Jeder Satz ein Treffer.“

„Denn mutt ik jem wull dootschete­n, oder?“

» Dörte Hansen: Mittagsstu­nde. 320 S., 22 ¤

Penguin,

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Foto: Sven Jaax Überrascht vom ersten Erfolg, souverän nachgelegt: die Schriftste­llerin Dörte Hansen

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