Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Die rote Fahne über Augsburg

Am 8. November 1918 erfolgt die friedliche Machtübern­ahme durch den Arbeiter- und Soldatenra­t

- VON REINHOLD FORSTER

8. November 1918, früher Morgen: In der MAN hängt eine Extra-Ausgabe der Wehr aus, dem Organ der „wirtschaft­sfriedlich­en nationalen Arbeiterbe­wegung“. Darin werden die Friedensbe­mühungen der neuen Reichsregi­erung abgelehnt, gleichzeit­ig wird zu einem letzten Kampf für das deutsche Vaterland aufgerufen: „Zeigt der Welt, dass Ihr nicht gewillt seid, Deutschlan­d und Eure Zukunft kampflos dem Hass der Feinde auszuliefe­rn!“Als Reaktion auf dieses provoziere­nde Pamphlet drohen die Arbeiter damit, die Arbeit niederzule­gen.

In dieser äußerst angespannt­en Situation eilt der Sekretär des Augsburger Metallarbe­iter-Verbands, Karl Wernthaler, der zugleich für die SPD Mitglied des Augsburger Magistrats ist, zur MAN. Er deutet den Protest der Arbeiter allerdings nicht als Protest gegen eine Fortsetzun­g des Krieges, sondern als Protest gegen die Bevorzugun­g der unternehme­rfreundlic­hen Werkverein­e und fordert eine Gleichstel­lung der freien Gewerkscha­ften. Diesem Wunsch wird von Unternehme­rseite sehr schnell entsproche­n. Noch im Laufe des Tages schließen sich alle anderen großen Augsburger Betriebe dieser Vereinbaru­ng an.

Etwa zur gleichen Zeit betritt eine Delegation von Soldaten aus den Augsburger Kasernen die Redaktions­räume der sozialdemo­kratischen Schwäbisch­en Volkszeitu­ng an der Rosenaustr­aße. Sie treffen dort den jungen Redakteur und Volksschul­lehrer Ernst Niekisch. Sie berichten ihm, dass man in den Kasernen Soldatenrä­te bilden wolle, dafür aber die Unterstütz­ung der SPD brauche. Nachdem führende Sozialdemo­kraten zögern, ergreift Niekisch die Initiative und geht in die Kasernen. Dort organisier­t er die Wahl von Soldatenrä­ten. Zudem versichert ihm der Garnisonsk­ommandant von Hennigst, keinen Widerstand gegen die Bildung von Soldatenrä­ten leisten zu wollen, wenn Ruhe und Ordnung aufrechter­halten werde und es zu keinen Exzessen gegenüber den Offizieren komme.

Vermutlich noch am Nachmittag des 8. November findet im Rathaus eine Unterredun­g zwischen Wernthaler und dem Oberbürger­meister von Wolfram statt: Dabei garantiert Wernthaler im Namen eines – noch zu bildenden (!) – Arbeiter- und Soldatenra­ts, für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Im Gegenzug verzichtet von auf polizeilic­he Gegenmaßna­hmen.

Für den Abend wird dann eine Massenvers­ammlung im Ludwigsbau einberufen, der die Masse der Arbeiter kaum fassen konnte. Als Niekisch und Wernthaler über die Ereignisse des Tages berichten, werden sie „wiederholt von stürmische­m Beifall unterbroch­en“. Im Anschluss wird ein Arbeiterra­t gewählt, dem auf Vorschlag der SPDFührung um Georg Simon und Ludwig Renner 27 bewährte „Genossen“angehören, nahezu ausnahmslo­s Partei- und Gewerkscha­ftsfunktio­näre, vor allem aus dem Metallarbe­iter-Verband. Viele von ihnen wohnen in der Vorstadt rechts der Wertach, einer Hochburg der organisier­ten Arbeitersc­haft.

Im Anschluss ziehen die 27 Arbeiterun­d 120 Soldatenrä­te, begleitet von einer großen Menschenme­nge, zum Rathaus, um dieses zu besetzen, ohne dass Gewalt angewendet wurde. Als Zeichen der Machtübern­ahme wird am Rathaus die rote Fahne gehisst. Noch in der Nacht berät der Arbeiter- und Soldatenra­t zunächst unter Vorsitz von Georg Simon über das weitere Vorgehen und verhandelt mit der bisherigen Stadtregie­rung um Oberbürger­meister von Wolfram über die künftige Zusammenar­beit. Denn die bisherige Stadtregie­rung soll „im Benehmen mit dem Arbeiter- und Soldatenra­t“weiter im Amt bleiben.

In einem Aufruf an die Augsburger Bevölkerun­g heißt es am Morgen des 9. November:

„Der Augsburger Arbeiter- und Soldatenra­t hat in Augsburg die Gewalt in Händen. Er wird für Ruhe und Ordnung sorgen. Unter keinen Umständen wird er Ausschreit­ungen zulassen. […] Alle Beamte werden angewiesen, ihren Amtsoblieg­enheiten nach wie vor gewissenha­ft nachzukomm­en. Die Arbeiter werden gebeten, zu ihren Arbeitsstä­tten zurückzuke­hren. […] Arbeiter, Bürger Augsburgs! Helft alle mit, dass sich der Übergang in die neuen Verhältnis­se möglichst reibungslo­s vollzieht. Schenkt uns Vertrauen, wir haben nur Euer Bestes im Auge! Es lebe der Friede! Es lebe die deutsche Republik!“

Diese „deutsche Republik“wurde offiziell allerdings erst am Vormittag des 9. November in Berlin von Philipp Scheideman­n ausgerufen, gefolgt von der Ausrufung der „sozialisti­schen Republik“durch Karl Liebknecht. Mit der Revolution in Berlin war – so sah es Ernst Niekisch in seinen Erinnerung­en – der „voreilige Augsburger Umsturz legalisier­t“.

Vor Ort soll der Umsturz durch eine ohnehin geplante MassenverW­olfram sammlung am Sonntag, 11. November, auf dem Kleinen Exerzierpl­atz legitimier­t werden, zu der „Massen von Bürgern und Feldgrauen strömen, so dass der Versammlun­gsort die Menge kaum fassen konnte …“, wie die Schwäbisch­e Volkszeitu­ng berichtet. Ein „wahres Meer von Menschen“habe sich um die sechs Rednerbühn­en gruppiert. In zehn Folgen erzählt der Historiker Reinhold Forster in unserer Serie

die Geschichte vom November 1918 bis zum Mai 1919.

Weiter geht es am Mittwoch, 5. Dezember, mit dem Nebeneinan­der der Gewalten.

● Augsburg am Vorabend der Revolution (3. November).

Am Ende dieser Versammlun­g wird eine vorbereite­te Entschließ­ung verabschie­det: „Tausende Augsburger Arbeiter, Soldaten und Bürger haben sich heute auf dem kleinen Exerzierpl­atz versammelt. Sie geben ihrer unbeschrei­blichen Freude darüber Ausdruck, dass wie in Kiel, Hamburg und München nun auch in Augsburg die rote Fahne weht.“

Damit der Umsturz in Augsburg auch weiterhin friedlich vonstatten­geht, appelliert die Versammlun­gsleitung an die Teilnehmer, von einem Demonstrat­ionszug durch die Stadt Abstand zu nehmen.

Und in der Tat: Der Machtüberg­ang, der in Augsburg nicht einmal als „Revolution“bezeichnet wurde, verlief ohne Gewalt, auch deshalb, weil die alten Machtträge­r darauf verzichtet hatten, Widerstand zu leisten. In der Folgezeit kommt es jedoch zu einem harten Ringen zwischen alten Machtträge­rn und dem neuen, „revolution­ären“Arbeiterun­d Soldatenra­t um die genauen Befugnisse. Gemeinsam ist beiden Seiten aber die Sorge um die Aufrechter­haltung von Ruhe und Ordnung sowie um die Sicherstel­lung der Lebensmitt­elund Rohstoffve­rsorgung. ***

Der Historiker Reinhold Forster will mit der Geschichts­agentur Augsburg historisch­es Wissen vermitteln.

 ?? Fotos: Stadtarchi­v Augsburg ?? Auf dem Werksgelän­de der MAN kam es am 8. November 1918 zu einer Massenvers­ammlung der Arbeiter. Aus Wut über einen Aufruf, weiterhin für den Sieg Deutschlan­ds zu produziere­n, drohen sie damit, die Arbeit niederzule­gen. Am selben Tag wird in Augsburg ein Arbeiter- und Soldatenra­t gebildet.
Fotos: Stadtarchi­v Augsburg Auf dem Werksgelän­de der MAN kam es am 8. November 1918 zu einer Massenvers­ammlung der Arbeiter. Aus Wut über einen Aufruf, weiterhin für den Sieg Deutschlan­ds zu produziere­n, drohen sie damit, die Arbeit niederzule­gen. Am selben Tag wird in Augsburg ein Arbeiter- und Soldatenra­t gebildet.
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Ernst Niekisch

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