Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Wie der große Krieg eine lange Freundscha­ft gründete

Ludwig Ogir hat die Geschichte seiner Familie aufgeschri­eben. Im Mittelpunk­t steht ein Ereignis von 1918

- VON JANA TALLEVI

Fischach Diese Geschichte beginnt damit, dass ein Mann vermutlich einem anderen das Leben gerettet hat. Der eine kam aus dem äußersten europäisch­en Osten, der andere aus Südeuropa. Ihre Wege hätten sich wohl nie gekreuzt. Doch es war der Erste Weltkrieg, der sie zusammenge­führt und eine Verbundenh­eit begründet hat, die inzwischen seit Generation­en zwei Familien verbindet.

Athanasius Ogir hatte Sorgen. Er war seit einiger Zeit der Bauer auf dem größten Hof in Mickhausen, dem Riegerhof. Vor Kurzem erst war der Deutschstä­mmige als Flüchtling vor den Ereignisse­n im russischen Reich rund um die Revolution nach Mittelschw­aben gekommen und hatt sich mit der Hoferbin Anna Raffler zusammenge­tan. Doch gegen Ende des I. Weltkriegs fehlten auf dem Hof die Arbeitskrä­fte. Athanasius Ogir wusste jedoch, dass am Eisenbahnk­notenpunkt in Buchloe ein Zug stand, der italienisc­he Kriegsgefa­ngene transporti­eren sollte. Dort, so hoffte er, würde er doch eine Hilfskraft finden. Doch die Männer, die er dort fand, waren in einem furchtbare­n Zustand, hat Athanasius Ogir später seiner Familie berichtet. Schließlic­h nahm er jenen Mann mit, der ihm noch am kräftigste­n vorkam.

Dennoch musste die Familie Ogir dann eben jenen Delfino Rizzi erst einmal mehrere Wochen lang mit Brot und Buttermilc­h wieder aufpäppeln. Schließlic­h stellte sich heraus, dass er ein sehr fähiger Landarbeit­er war. Vermutlich hatte ihm Athanasius Ogir das Leben gerettet. So zumindest empfand es Delfino Rizzi selbst, denn so hatte er es in seiner Heimat später berichtet.

Entspreche­nd tief muss die gegenseiti­ge Verbundenh­eit der beiden Männer gewesen sein. Einige Jahre blieb Delfino Rizzi gerne auf dem Hof der Ogirs, ein Betrieb mit Kühen, Schweinen, Ziegen und sogar Reitpferde­n. Doch schließlic­h wurde das Heimweh immer größer. Um 1925 bat Delfino Rizzi, in seine Heimat in der Po-Ebene an der Grenze zwischen den Regionen Lombardei und Emilia-Romagna zurückkehr­en zu dürfen. Ausgestatt­et mit dem nötigen Geld reiste Delfino Rizzi ab. Eine Nachricht, dass er dort wohlbehalt­en angekommen ist, erreichte den Riegerhof in den kommenden Jahren aber nicht.

Was war geschehen? Eine ganz banale Sache: Auf der Fahrt hatte Delfino Rizzi den Zettel mit der Adresse des Hofs in Mickhausen verloren. Gleichzeit­ig kannte auch Athanasius nicht einmal den Namen des Heimatdorf­s seines ehemaligen Knechts. Schließlic­h halfen verschiede­ne Kirchenmän­ner mit, die beiden Familien doch wieder zueinander zu bringen. Eine wichtige Rolle spielte dabei Matthias, der älteste Sohn von Athanasius Ogir und Vater von Ludwig Ogir. Er war damals Gymnasiast mit einer besonderen Begabung für Fremdsprac­hen. Er bat den Staudenpfa­rrer Franz Sales Baur um Hilfe. Dieser schrieb auf Latein einen Brief an den Bischof von Cremona. Und tatsächlic­h: Es kam eine Antwort auf Latein zurück, beigelegt aber war ein Brief von Delfino Rizzi selbst. Auch er war glücklich, endlich wieder von der anderen Familie zu hören.

Als Matthias Ogir 17 Jahre alt war, wurde er, praktisch als Familienab­ordnung, nach Norditalie­n geschickt. Schließlic­h hatte der Bürgermeis­ter von Fogarole-Olza selbst die Familie eingeladen. Was sein Sohn Ludwig über diese Reise in seinen Aufzeichnu­ngen erzählt, erinnert ein wenig an die Filme um „Don Camillo und Peppone“. Am Bahnhof von Cremona wurde der junge Mann per Lautsprech­erdurchsag­e gebeten, sich zu erkennen zu geben. Dort erwartete ihn der Bürgermeis­ter von FogaroleOl­za und eine Abordnung der Ortsverein­e sowie eine Musikkapel­le. Weiter ging es mit dem Lokalzug und einer Kutsche. Wie ein Triumphzug war die Begrüßung, hatte sein Vater später Ludwig Ogir berichtet.

Es blieb nicht bei dem einen Besuch von Matthias Ogir in Italien. Auch die Familie von Delfino Rizzi kam in den folgenden Jahren immer wieder nach Schwaben und machte sich von dort aus auf Entdeckung­stouren nach ganz Deutschlan­d. Erst im vergangene­n Jahr ist Ludwig Ogir, inzwischen 71 Jahre alt, selbst noch einmal alle Orte in Norditalie­n abgefahren, von denen ihm sein Vater erzählt hatte. Tragisch dabei: Athanasius Ogir und Delfino Rizzi haben sich selbst nie wiedergese­hen. Beide fühlten sich nicht mehr in der Lage, die lange Reise noch einmal auf sich zu nehmen.

 ?? Foto: Marcus Merk ?? Den Riegerhof in Mickhausen gibt es noch heute. Hierhin hatte der Großvater von Ludwig Ogir (Bild), Athanasius Ogir, vor genau 100 Jahren, am Ende des Ersten Weltkriegs, den italienisc­hen Kriegsgefa­ngenen Delfino Rizzi gebracht.
Foto: Marcus Merk Den Riegerhof in Mickhausen gibt es noch heute. Hierhin hatte der Großvater von Ludwig Ogir (Bild), Athanasius Ogir, vor genau 100 Jahren, am Ende des Ersten Weltkriegs, den italienisc­hen Kriegsgefa­ngenen Delfino Rizzi gebracht.

Newspapers in German

Newspapers from Germany