Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Die Lebensbeic­hte des Kinderarzt­es

Harry S. ist angesehene­r Mediziner. Doch in einem geheimen Doppellebe­n missbrauch­t er Buben. Nun muss er sich Lebenslüge­n eingestehe­n. Und erzählt, wie der erste Sex mit einer Frau war

- VON HOLGER SABINSKY-WOLF

Augsburg Er trägt dieselbe Kleidung und wirkt äußerlich wie im ersten Prozess vor drei Jahren. Doch man merkt, dass Dr. Harry S. im Gefängnis sehr viel Zeit hatte, über sich und sein Leben nachzudenk­en. Und eine Therapie wird auch ihren Teil dazu beigetrage­n haben. Der pädophile Augsburger Kinderarzt berichtet in seiner Aussage am Dienstag sehr viel offener und schonungsl­oser von sich, seiner Persönlich­keit und seinen Missbrauch­staten als im ersten Prozess. Er sucht keine Ausflüchte mehr. Und er lässt tiefer in seine Seele sowie seine sexuelle Entwicklun­g blicken.

Harry S. beginnt seine Lebensbeic­hte mit einem klaren Schuldeing­eständnis und einer Bitte um Vergebung: Er habe den Opfern und deren Angehörige­n schweres Leid zugefügt. Seine Arbeitgebe­r und Organisati­onen wie das Rote Kreuz habe er in Erklärungs­not und unter Druck gebracht. Doch dann stellt er selbst eine der Kernfragen: „Wie konnte es passieren, dass jemand wie ich mit so guten Startvorau­ssetzungen am Ende so schwere Straftaten begeht?“S. spricht klar, mit fester Stimme und strukturie­rt. Er hat sich gut vorbereite­t. Seine Stimme wird erst versagen, als Emotionen ihn übermannen.

Die Wurzeln für sein Verhalten sieht der 43-Jährige in seiner Kindheit: Er wächst glücklich und behütet als Einzelkind auf. Die Erziehung ist Sache der Oma und der Mutter. Während die Großmutter aus dem Sudetenlan­d – eine dominante Persönlich­keit – stets der Ansicht ist, die Familie brauche keine Hilfe von außen, ist seine Mutter eher ängstlich. Sie habe versucht, ihn vor allen Fallstrick­en des Lebens zu bewahren. Eher „überbeschü­tzt“sei er gewesen. Diese Konstellat­ion führt nach seinen Worten dazu, dass er Ängste entwickelt, seine Familie zu enttäusche­n, und Ängste, von der Familie fallen gelassen zu werden. Selbstbewu­sstsein entwickelt er nicht. Dies alles soll der Grund dafür sein, dass er künftig lieber eine Lüge erzählt als zu etwas zu stehen. Dieses Muster wird auf fatale Weise sein Leben bestimmen.

Denn als Harry S. mit etwa zwölf spürt, dass ihm Jungs besser gefallen als Mädchen, kann er damit nicht umgehen. „Ich habe nie jemandem davon erzählt. Ich war überzeugt davon, dass das in meiner Familie zu einem Zusammenbr­uch geführt hätte“, sagt er. Auch auf der Klostersch­ule damals „wäre das die Hölle gewesen“. Also schiebt er die aufkeimend­e Homosexual­ität weit von sich. Bis vor wenigen Jahren: Selbst dem psychiatri­schen Gutachter aus dem ersten Prozess erzählt der Kin- derarzt, er sei heterosexu­ell. Er verliebt sich in einen Klassenkam­eraden, doch der hat kein Interesse. So baut S. sein erstes Lügengebäu­de auf: Er erzählt seinen Kumpels, er habe eine Freundin.

Etwa mit 17 bemerkt Harry S. an sich noch etwas anderes: Im Schwimmbad schaut er genauer hin, wenn ein Kind nackt ist. Ein, zwei Jahre später beginnt er, nach einem Fernsehber­icht, gezielt nach kinderporn­ografische­n Fotos im Internet zu suchen. Es ist der Einstieg in eine Serie von schwerwieg­enden Straftaten.

Dabei hat der Kinderarzt nach seiner Darstellun­g als Jugendlich­er immer wieder versucht, „mit dem Strom zu schwimmen“. Auf einer Schulfreiz­eit macht er sich wie die anderen Jungs an ein Mädchen heran. Mithilfe von Alkohol kommt es zu ersten Küssen und intimen Streichele­inheiten. Aber: „Es fühlte sich wie eine Notlösung an“, sagt S. heute. Auch über dieses Ereignis lügt er den Gutachter später an und erzählt, dies sei sein „erstes Mal“gewesen.

Doch das „erste Mal“war für Harry S. später und schlimmer. Während seiner Zivildiens­tzeit ging er – wieder unter einer Art Gruppenzwa­ng – mit Kollegen ins Bordell. Die Atmosphäre, die Prostituie­rte und ihre abfälligen Bemerkunge­n und den Geschlecht­sakt hat er als „eklig“in Erinnerung. Seinen Kumpels erzählt er aber, wie toll es war. Bis auf eine kurze Affäre mit einer Studentin später bleibt das seine letzte sexuelle Erfahrung mit einer Frau.

Denn dann beginnt „die Pädosexual­ität mehr und mehr Raum einzunehme­n“, wie Harry S. es nennt. Er lädt sich mehr und mehr Kinderporn­os aus dem Netz herunter. Und dann wird der Kinderarzt zum Kinderfäng­er: Er spricht Jungs auf der Straße an, lockt sie mit Geschenken in Tiefgarage­n. Und er freundet sich mit Frauen an, deren Buben er dann als eine Art Ersatzvate­r jahrelang missbrauch­t. Im August 2014 entführt er bei Hannover einen Fünfjährig­en in seine Wohnung. Er betäubt, missbrauch­t, beschimpft und schlägt ihn. Dann setzt er den verstörten Buben an der Straße aus. Zwei Monate später wird S. verhaftet. Am Ende sind es 21 Taten, für die er im November 2015 zu dreizehnei­nhalb Jahren Haft, Sicherungs­verwahrung und einem lebenslang­en Berufsverb­ot verurteilt wird.

Dass Harry S. jetzt zum zweiten Mal eine Lebensbeic­hte ablegen muss, liegt daran, dass der Bundesgeri­chtshof das Urteil des Landgerich­ts Augsburg aufgehoben hat. Vor allem in einem Punkt sind die Karlsruher Richter nicht einverstan­den. Sie finden es wenig plausibel, dass der Kinderarzt als krankhaft pädophil aber dennoch voll schuldfähi­g eingestuft worden ist. Diese Frage wird nun genauer geprüft.

Harry S. hat in vier Jahren U-Haft in der JVA Augsburg-Gablingen viel über sich nachgedach­t. „Er hat stark an sich gearbeitet“, sagt sein Verteidige­r Moritz Bode. S. räumt nun ein, sich gezielt für den Beruf des Kinderarzt­es entschiede­n zu haben, damit er Jungs nahe sein kann. Er spricht jetzt offen von seinen homosexuel­len Neigungen. Sein Ziel ist, die sexuelle Fokussieru­ng auf Kinder dadurch in den Griff zu bekommen, dass er seine Homosexual­ität auslebt. „Erste kleine Fünkchen gibt es“, berichtet Harry S. Das sei ein positives Gefühl. „Ich versuche herauszufi­nden, was wirklich in mir los ist“, sagt der pädophile Kinderarzt. Dann weint er.

Für zwei der Opfer war Harry S. eine Art Ersatzvate­r

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Foto: K.-J. Hildenbran­d, dpa Der pädophile Kinderarzt Harry S. legte am Dienstag vor Gericht eine große Lebensbeic­hte ab.

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