Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Mary Shelley: Frankenste­in oder Der moderne Prometheus (38)

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PFrankenst­ein ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Menschen umkommen … © Projekt Gutenberg

lötzlich kamen zwei Landleute des Weges. Sie blieben vor dem Hause stehen und begannen, heftig gestikulie­rend, eine aufgeregte Unterhaltu­ng. Ich konnte sie nicht verstehen, da sie sich in der Sprache des Landes unterhielt­en, die ja eine ganz andere war, als die meiner Freunde. Einige Zeit später kam Felix mit einem Begleiter. Ich war darüber sehr erstaunt, denn ich wußte, daß er das Haus heute noch nicht verlassen hatte, und konnte es kaum erwarten, aus seinem Gespräche zu erfahren, was da eigentlich vorgegange­n sei.

„Bedenkt Ihr denn nicht,“sagte sein Begleiter zu ihm, „daß Ihr die Miete für drei Monate umsonst zu zahlen habt und außerdem aller Eurer Gartenfrüc­hte verlustig geht? Ich will mich nicht ungerecht bereichern und bitte Euch, noch ein paar Tage die Sache zu überlegen.“

„Es ist ganz zwecklos,“erwiderte Felix, „wir können nie und nimmermehr dieses Haus bewohnen. Das Leben meines Vaters ist seit jenem

schrecklic­hen Ereignis, von dem ich Euch berichtet, in äußerster Gefahr, und mein Weib und meine Schwester haben sich noch nicht von ihrem Entsetzen erholt. Ich bitte Euch, nicht weiter in mich zu dringen. Ergreift wieder Besitz von Eurem Eigentum und laßt uns von diesem Platze fliehen.“

Felix zitterte an allen Gliedern, während er so sprach. Er und sein Begleiter begaben sich in das Innere des Hauses. Ganz kurze Zeit blieben sie darin und gingen dann zusammen fort. Seitdem habe ich niemand mehr von der Familie de Lacey gesehen.

Den Rest des Tages verbrachte ich in meinem Schuppen und gab mich der tiefsten Verzweiflu­ng und dumpfem Schmerze hin. Meine Beschützer waren fort und hatten so das einzige Band zerrissen, das mich an die Welt fesselte. Es war das erste Mal, daß Gefühle der Rachsucht und des Hasses in meiner Brust Raum fanden, und ich gab mir keine Mühe sie zu unterdrück­en. Ich ließ mich von dem Strome tragen, der mich zu Verbrechen und Mord hinführte. Der Gedanke an meine Freunde, an die milde Stimme des Greises, die schönen Augen Agathes und an den Liebreiz Safies verdrängte immer wieder auf kurze Zeit meine bösartigen Gefühle. Aber wenn ich mir überlegte, daß sie mich vertrieben, mich geschlagen hatten, dann kehrte die Wut wieder, eine maßlose Wut; und da kein menschlich­es Wesen da war, an dem ich meine Raserei hätte austoben können; stürzte ich mich auf Unbelebtes. Als es Nacht wurde schleppte ich alles Brennbare, dessen ich habhaft werden konnte, in der Nähe des Hauses zusammen und zerstörte im Garten jede Spur der pflegenden Menschenha­nd. Dann wartete ich, bis der Mond unterging, um mein Werk zu vollenden.

Ein frischer Wind kam aus dem nächtliche­n Walde und zerstreute die Wolken, die am Himmel hingen. Ich ergriff einen trockenen Ast, zündete ihn an und tanzte dann wie ein Toller um das dem Verderben geweihte Haus. Immer wieder blickte ich nach dem westlichen Horizont, hinter dem der Mond schon zum Teil versunken war. Und als der glutrote Ball gänzlich untergetau­cht war, warf ich mit lautem Schrei den Brand in die aufgehäuft­e Streu. Prasselnd schlugen die Flammen auf, umfluteten bald das ganze Gebäude und leckten, gepeitscht vom rauschende­n Winde, mit ihren spitzen, zerstörend­en Zungen an den Wänden hinauf.

Ich wartete nur so lange, bis ich erkannt hatte, daß keine Macht der Erde auch nur das Geringste noch zu retten vermochte, und verkroch mich dann in den Tiefen des Waldes. Die weite Welt lag nun wieder vor mir, aber wohin sollte ich meine Schritte lenken? Jedenfalls wollte ich weit, weit fort von der Stätte meines Mißgeschic­kes, denn für mich, den Ausgestoße­nen und Gehaßten, war es ja gleich, welches Land mich aufnahm. Schließlic­h aber dachte ich an dich. Ich wußte aus deinen Papieren, daß du mein Erzeuger, mein Schöpfer seist, und wem konnte ich mich wohl mit mehr Vertrauen nähern als dem, der mir das Leben gegeben? Der Unterricht, den Felix an Safie erteilt hatte, hatte sich auch auf Geographie erstreckt, und so hatte ich erfahren, welche Lage die Länder der Erde zu einander einnahmen. Ich hatte in deinen Aufzeichnu­ngen gelesen, daß deine Heimatstad­t Genf sei, und beschloß, zunächst dorthin die Wanderung anzutreten.

Es war sehr schwer für mich, mich zurechtzuf­inden. Ich kannte weder die Namen der Städte und Ortschafte­n, die ich zu passieren hatte, und durfte auch nicht damit rechnen, von einem menschlich­en Wesen unterwegs Auskunft zu erhalten. Aber ich wußte ja, daß ich immer nach Südwesten zu gehen hätte, und die Sonne war meine Führerin. Du warst der Einzige, von dem ich noch Hülfe erwarten konnte, wenn ich auch gegen dich nichts empfand als den bittersten Haß. Herzloser! Grausamer! Du hast mich mit Gefühlen und Empfindung­en ausgestatt­et und dann warfst du mich auf die Straße, jedermann zum Spott und Entsetzen. Von dir allein hatte ich Mitleid und Hülfe zu erwarten und du allein konntest mir das geben, was ich von jedem anderen Wesen in Menschenge­stalt umsonst gefordert hätte.

Meine Reise war lang und Schweres hatte ich zu erdulden. Die Jahreszeit war schon weit fortgeschr­itten, als ich dem Erdenfleck, wo ich so lange gehaust, den Rücken wandte. Ich wanderte nur zur Nachtzeit, um keinem Menschen zu begegnen. Die Natur hatte sich schon zur Ruhe begeben und die Sonne hatte keine Kraft mehr. Regen und Schnee fielen nieder und die Bäche waren zu Eis erstarrt. Die Erde war hart, kalt und nackt und bot nichts, um mein müdes Haupt hinzulegen. O Erde, wie oft habe ich dir geflucht und dem, der mich schuf! Meine natürliche Gutmütigke­it war dahin und hatte sich in Gift und Galle verwandelt. Je näher ich deiner Heimat kam, desto heißer erwachte die Sehnsucht nach furchtbare­r Rache. Schnee und Eis hielten meinen Schritt nicht auf. Im großen und ganzen war es wohl nur Zufall, daß ich mich zurechtfan­d. Mein Wunsch, dir gegenüberz­utreten, ward immer heftiger und beschleuni­gte meine Schritte, und jedes Hindernis, das sich mir in den Weg stellte, gab meiner Wut und meinem Zorn nur noch mehr Nahrung. Und ein Abenteuer, das ich erlebte, als ich die Schweizer Grenze erreichte – es war schon wieder warm geworden und die Erde hatte ihr grünes Kleid angelegt – war besonders geeignet, meine Bitterkeit und meine Wut aufs höchste zu steigern.

Wie ich schon erwähnte, pflegte ich nur des Nachts zu wandern und des Tages zu ruhen, um ungesehen zu bleiben. Eines Morgens aber entschloß ich mich doch, meinen Weg weiter fortzusetz­en, da er, wie ich bemerkte, durch dichtes Holz führte, so daß ich das Antlitz des Tages nicht zu scheuen hatte. Es war ein herrlicher Frühlingst­ag und selbst ich empfand wohltuend den warmen Sonnensche­in und die milde Luft. Und ich fühlte sogar Freude und Behagen, die ich in mir vollkommen gestorben wähnte.

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