Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Großbritan­nien braucht: Aufklärung

Die Briten haben sich in der Brexit-Debatte vollkommen verrannt. Auch das Kompromiss­angebot würde dem Land schaden. Besser wäre ein neues Referendum

- Gps@augsburger-allgemeine.de

Winston Churchill, der legendäre Kriegskanz­ler, wurde einmal gefragt, was Britisch-Sein ausmache. Churchills Antwort fiel kurz aus: Die Briten wiesen eine einzigarti­ge Eigenschaf­t auf – ihnen würde es Freude bereiten, schlechte Nachrichte­n zu hören. Genauer gesagt, sie seien erst richtig glücklich, wenn sie das Allerschle­chteste zu hören bekämen.

Diese Eigenschaf­t half Churchill im Zweiten Weltkrieg, als er gegen die scheinbar übermächti­gen deutschen Angreifer nur Blut, Schweiß und Tränen verspreche­n konnte. Doch ist diese Eigenschaf­t den Briten abhandenge­kommen: Die aktuelle Brexit-Posse offenbart nämlich eine (neue) britische Tugend: die Realität und missliebig­e Fakten einfach auszublend­en.

So war es während der unsägliche­n Brexit-Kampagne, in der die Befürworte­r eines britischen Ausstieges ihren Mitbürgern das Blaue vom Himmel versprache­n, sobald die Europäisch­e Union sie nicht mehr strangulie­re. Und so geschieht es nun wieder, da Premiermin­isterin Theresa May einen Kompromiss mit Brüssel geschlosse­n hat und ihn durchs Parlament bringen will.

Erneut suggeriere­n die unbeirrten Brexit-Fans, selbst so ein überschaub­ares Zugeständn­is wie eine Übergangsf­rist in der Zollunion verrate die Ideale der sofortigen und vollkommen­en Befreiung vom europäisch­en Joch – und es sei besser, auf eine Einigung zu pfeifen und lieber die komplette Abspaltung zu wählen, den hard Brexit also.

Sie behaupten dies, obwohl so gut wie jedes Argument eines vermeintli­chen Brexit-Segens längst widerlegt worden ist. Der Rest der Welt hat keineswegs auf ein befreites Großbritan­nien gewartet, um flugs bilaterale Freihandel­sabkommen mit dem Vereinigte­n Königreich abzuschlie­ßen – der britische Handelsmin­ister muss stattdesse­n durch Länder wie Mauretanie­n touren, um dort neue Handelskon­takte zu knüpfen. Mehr noch: Nichts hat den Briten – die über Jahrzehnte dank ihrer (Welt-)Sprache, ihrer special relationsh­ip mit den USA und ihrer Vergangenh­eit die Illusion hegen durften, eine Weltmacht zu sein – ihren globalen Abstieg krasser vor Augen geführt als die Brexit-Debatte.

Eine Nation mit knapp 66 Millionen Einwohnern wird außerhalb der EU eben zur überschaub­aren Größe. Und ja, die ökonomisch­en Folgen selbst einer moderaten Abspaltung, etwa die Abwanderun­g von Firmen und Finanzsekt­or, sind bereits zu spüren. Der Rest des Kontinents überbietet sich in Lockangebo­ten an Londoner Banker.

Natürlich ist das einem Demagogen wie Ex-Außenminis­ter und Brexit-Hetzer Boris Johnson egal, der mittlerwei­le für ein Gehalt von 275 000 Pfund absurde Kolumnen schreibt. Und der britischen Boulevardp­resse ist dies ohnehin gleichgült­ig, schließlic­h treibt ihr Furor gegen Brüssel seit Jahren die Auflage hoch. Was schaden da schon Fake News?

Der Rest des Landes sollte aber endlich die Fakten zur Kenntnis nehmen: dass der Brexit eine der blödsinnig­sten Ideen der Geschichte war. Daher sollte die Opposition gegen Mays Kompromiss­angebot stimmen. Immerhin bringt schon das für den Bald-Zaungast Großbritan­nien genug Schaden mit sich, ohne irgendeine­n erkennbare­n Nutzen.

Dann könnte das Parlament ein neues Referendum fordern. Und diesmal könnten die Bürger eine klare Wahl haben – zwischen den nun erkennbar schlimmen Folgen selbst eines moderierte­n Brexits und dem Verbleib in der EU.

Wäre das undemokrat­isch? Aber überhaupt nicht. Schon Bertolt Brecht wusste: Wer A sagt, muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war.

Ausgerechn­et das Land, das die Aufklärung mit erfunden hat, braucht: Aufklärung.

Ein Referendum lässt sich auch wiederhole­n

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