Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Unvollendet und doch wunderbar gelungen
Sinfoniekonzert Die Philharmoniker eröffneten ihre Spielzeit mit Bruckners Neunter, dem letzten und nicht zu Ende gebrachten Werk des großen Sinfonikers. Die Aufführung folgte einem Ratschlag des Komponisten
Sie gehört zu den nicht tot zu kriegenden Mythen der klassischen Musik: die Sage von der Besonderheit der 9. Sinfonie. Wesentlich mit schuld daran ist Beethoven mit seiner so völlig aus dem Rahmen fallenden Neunten, die seinen Nachfolgern den Schweiß auf die Stirne trieb, als sie selbst eine 9. Sinfonie auf sich zukommen sahen. Mahler taufte deshalb seine Neunte nicht Sinfonie, sondern „Lied von der Erde“. Bruckner wiederum brütete fast zehn Jahre über seiner Nummer neun, um sie, als er aus dem Leben schied, doch unfertig zurückzulassen – was die Gerüchteküche um Sinfonien mit dieser Werkziffer noch einmal ordentlich anheizte.
Drei Sätze statt der üblichen vier sind es also, die Bruckner (1824– 1896) mit der großen d-Moll-Sinfonie seinen Interpreten und Rezipienten hinterließ. Denn obwohl inzwischen mehrere Rekonstruktionsversuche des vierten und letzten Satzes der Sinfonie existieren – es liegt ja auch jede Menge Material von der Hand des Meisters vor –, so hat sich im Konzertsaal doch einzig die dreisätzige Version durchgesetzt. Nicht zuletzt, weil Bruckners Lebensabschiedssinfonie – so hat er selbst verstanden – nun mit friedlichen Adagio-Akkorden verklingt – wirkmächtiges Bild eines „Hinübergehens“, das Finalkraft umso mehr beanspruchen darf, wenn es so überwältigend gespielt wird wie jetzt von den Tuben und Hörnern der Augsburger Philharmoniker im Kongress am Park.
Dass das Orchester eines der anspruchsvollsten Werke der sinfonischen Literatur sich zum Auftakt seiner neuen Spielzeit gesetzt hat, darf durchaus als Statement verstanden werden. Die Musiker des Staatstheaters Augsburg sind ja jetzt auch Staatsorchester, selbst wenn für den Bruckner etwa ein Viertel aller Orchesterpositionen mit Gästen besetzt werden mussten.
Aber nicht nur für jedes Orchester ist Bruckner ein Lackmustest, sondern auch für Dirigenten. Ein regelrechtes Architektengespür für die Verteilungsverhältnisse innerhalb der riesenhaft sich dehnenden Sätze ist hier gefragt, sonst fällt das kunstvolle Formgefüge jäh auseinander. Domonkos Héja hat einen bemerkenswerten Sinn für diese Bruckner’schen Binnenrelationen. Das immer wieder neu gemischte und neu eingeführte Motivmaterial versteht er so zu präsentieren, dass es immer als Teil eines Ganzen er- scheint, sodass man als Hörer immer auf der Lauer liegt, was denn folgen werde. Und doch, bei allen Spannungsbögen, die Héja aufzieht, kennzeichnet zugleich eine bemersie kenswerte Entspanntheit die Aufführung. Hier muss der Dirigent nicht durch permanente buchhalterische Hervorhebung beweisen, dass er jeden noch so kleinen Motivbezug durchschaut hat. Nein, Héja lässt es fließen, vor allem natürlich in den streicherdominierten Gesangsperioden – ein Dahinströmen, das dem transzendentalen Charakter dieser „dem lieben Gott“gewidmeten Sinfonie wunderbar entspricht. Auch das Scherzo ist unter Héjas Händen nicht zu scharf geschnitten, kippt nichts ins Groteske, und doch geht die Musik nicht ihrer drängenden Intensität verlustig. Den langen Applaus am Ende, verdient hat ihn sich vor allem Augsburgs Generalmusikdirektor.
Das Orchester schimmerte warm an diesem Mittwochabend, die Tutti erklangen, dank glänzenden Blechs, nie kantig-grell, wohl aber mit gehaltvoller Wucht. Den Gegenpart bildeten die Soli der Holzbläser, konzentrierte Ausblicke in lichtere Gefilde. Und das Adagio ließen sich die Streicher der Philharmoniker natürlich nicht entgehen, von der bewegend moribund geformten Seufzerfigur des Anfangs bis hin zu den sanften Bekreuzigungszeichen in den letzten Takten der Violinen, klingenden Boten des Trostes.
Schluss mit Bruckners Neunter – und doch auch nicht. Der Komponist wollte seine Sinfonie nicht enden lassen, traditionell war ein vierter, letzter, alles krönender Satz geplant. Bruckner selbst hat noch den Hinweis gegeben, man solle doch, wenn er vorzeitig sterbe, sein Tedeum als Quasi-Finale aufführen, und so geschah’s in Augsburg. Der Philharmonische Chor und der Opernchor des Theaters (Einstudierung Wolfgang Reß bzw. Carl Philipp Fromherz) hatten sich dafür zusammengetan und nutzten eindrücklich die dynamische Spannweite, intonierten sicher an heiklen Stellen und schlugen sich trefflich in der abschließenden Fuge. Souverän auch das Solistenquartett mit Sally du Randt, Natalya Boeva, Roman Poboinyi und Stanislav Sergeev.
Und doch: Das Tedeum, obwohl ein vollendetes und von seinem Schöpfer sanktioniertes Werk, bleibt in der Funktion als SinfonieFinale eine Krücke, darin nicht anders als die Rekonstruktionsversuche des originalen vierten Satzes. Ob die Philharmoniker sich einmal trauen werden – bei Mozarts Requiem ist das ja auch kein Problem –, eine um den unvollständigen Schlusssatz vervollständigte Bruckner-Neunte aufzuführen?