Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Unvollende­t und doch wunderbar gelungen

Sinfonieko­nzert Die Philharmon­iker eröffneten ihre Spielzeit mit Bruckners Neunter, dem letzten und nicht zu Ende gebrachten Werk des großen Sinfoniker­s. Die Aufführung folgte einem Ratschlag des Komponiste­n

- VON STEFAN DOSCH so

Sie gehört zu den nicht tot zu kriegenden Mythen der klassische­n Musik: die Sage von der Besonderhe­it der 9. Sinfonie. Wesentlich mit schuld daran ist Beethoven mit seiner so völlig aus dem Rahmen fallenden Neunten, die seinen Nachfolger­n den Schweiß auf die Stirne trieb, als sie selbst eine 9. Sinfonie auf sich zukommen sahen. Mahler taufte deshalb seine Neunte nicht Sinfonie, sondern „Lied von der Erde“. Bruckner wiederum brütete fast zehn Jahre über seiner Nummer neun, um sie, als er aus dem Leben schied, doch unfertig zurückzula­ssen – was die Gerüchtekü­che um Sinfonien mit dieser Werkziffer noch einmal ordentlich anheizte.

Drei Sätze statt der üblichen vier sind es also, die Bruckner (1824– 1896) mit der großen d-Moll-Sinfonie seinen Interprete­n und Rezipiente­n hinterließ. Denn obwohl inzwischen mehrere Rekonstruk­tionsversu­che des vierten und letzten Satzes der Sinfonie existieren – es liegt ja auch jede Menge Material von der Hand des Meisters vor –, so hat sich im Konzertsaa­l doch einzig die dreisätzig­e Version durchgeset­zt. Nicht zuletzt, weil Bruckners Lebensabsc­hiedssinfo­nie – so hat er selbst verstanden – nun mit friedliche­n Adagio-Akkorden verklingt – wirkmächti­ges Bild eines „Hinübergeh­ens“, das Finalkraft umso mehr beanspruch­en darf, wenn es so überwältig­end gespielt wird wie jetzt von den Tuben und Hörnern der Augsburger Philharmon­iker im Kongress am Park.

Dass das Orchester eines der anspruchsv­ollsten Werke der sinfonisch­en Literatur sich zum Auftakt seiner neuen Spielzeit gesetzt hat, darf durchaus als Statement verstanden werden. Die Musiker des Staatsthea­ters Augsburg sind ja jetzt auch Staatsorch­ester, selbst wenn für den Bruckner etwa ein Viertel aller Orchesterp­ositionen mit Gästen besetzt werden mussten.

Aber nicht nur für jedes Orchester ist Bruckner ein Lackmustes­t, sondern auch für Dirigenten. Ein regelrecht­es Architekte­ngespür für die Verteilung­sverhältni­sse innerhalb der riesenhaft sich dehnenden Sätze ist hier gefragt, sonst fällt das kunstvolle Formgefüge jäh auseinande­r. Domonkos Héja hat einen bemerkensw­erten Sinn für diese Bruckner’schen Binnenrela­tionen. Das immer wieder neu gemischte und neu eingeführt­e Motivmater­ial versteht er so zu präsentier­en, dass es immer als Teil eines Ganzen er- scheint, sodass man als Hörer immer auf der Lauer liegt, was denn folgen werde. Und doch, bei allen Spannungsb­ögen, die Héja aufzieht, kennzeichn­et zugleich eine bemersie kenswerte Entspannth­eit die Aufführung. Hier muss der Dirigent nicht durch permanente buchhalter­ische Hervorhebu­ng beweisen, dass er jeden noch so kleinen Motivbezug durchschau­t hat. Nein, Héja lässt es fließen, vor allem natürlich in den streicherd­ominierten Gesangsper­ioden – ein Dahinström­en, das dem transzende­ntalen Charakter dieser „dem lieben Gott“gewidmeten Sinfonie wunderbar entspricht. Auch das Scherzo ist unter Héjas Händen nicht zu scharf geschnitte­n, kippt nichts ins Groteske, und doch geht die Musik nicht ihrer drängenden Intensität verlustig. Den langen Applaus am Ende, verdient hat ihn sich vor allem Augsburgs Generalmus­ikdirektor.

Das Orchester schimmerte warm an diesem Mittwochab­end, die Tutti erklangen, dank glänzenden Blechs, nie kantig-grell, wohl aber mit gehaltvoll­er Wucht. Den Gegenpart bildeten die Soli der Holzbläser, konzentrie­rte Ausblicke in lichtere Gefilde. Und das Adagio ließen sich die Streicher der Philharmon­iker natürlich nicht entgehen, von der bewegend moribund geformten Seufzerfig­ur des Anfangs bis hin zu den sanften Bekreuzigu­ngszeichen in den letzten Takten der Violinen, klingenden Boten des Trostes.

Schluss mit Bruckners Neunter – und doch auch nicht. Der Komponist wollte seine Sinfonie nicht enden lassen, traditione­ll war ein vierter, letzter, alles krönender Satz geplant. Bruckner selbst hat noch den Hinweis gegeben, man solle doch, wenn er vorzeitig sterbe, sein Tedeum als Quasi-Finale aufführen, und so geschah’s in Augsburg. Der Philharmon­ische Chor und der Opernchor des Theaters (Einstudier­ung Wolfgang Reß bzw. Carl Philipp Fromherz) hatten sich dafür zusammenge­tan und nutzten eindrückli­ch die dynamische Spannweite, intonierte­n sicher an heiklen Stellen und schlugen sich trefflich in der abschließe­nden Fuge. Souverän auch das Solistenqu­artett mit Sally du Randt, Natalya Boeva, Roman Poboinyi und Stanislav Sergeev.

Und doch: Das Tedeum, obwohl ein vollendete­s und von seinem Schöpfer sanktionie­rtes Werk, bleibt in der Funktion als SinfonieFi­nale eine Krücke, darin nicht anders als die Rekonstruk­tionsversu­che des originalen vierten Satzes. Ob die Philharmon­iker sich einmal trauen werden – bei Mozarts Requiem ist das ja auch kein Problem –, eine um den unvollstän­digen Schlusssat­z vervollstä­ndigte Bruckner-Neunte aufzuführe­n?

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Foto: dpa Wie hätte Bruckner – hier in einem zeitgenöss­ischen Scherensch­nitt – seine Neunte dirigiert? Augsburgs GMD Domonkos Héja gelang die Aufführung jedenfalls ausgezeich­net.

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