Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Harry S. hat ihn gefördert und missbraucht
Justiz Im Prozess gegen den pädophilen Kinderarzt sagt auch junger Mann aus, der als Kind vom Angeklagten betäubt und missbraucht worden. Warum das Opfer trotzdem sagt: „Ohne ihn wäre ich nicht da, wo ich jetzt bin.“
Er ist sprachlos. Noch immer, nach Jahren. Thomas F.*, heute 21, ist als Kind von Kinderarzt Dr. Harry S. missbraucht worden. Er war elf Jahre alt, als sich der Mediziner an ihm verging. Er wusste davon lange nichts, weil Harry S. ihn vorher mit einem Medikament betäubt hatte. Erst als Kripobeamte den Augsburger Arzt im Herbst des Jahres 2014 unter Missbrauchsverdacht verhafteten und seine Computer auswerteten, stießen sie auf Fotos, die den Missbrauch an Thomas F. zeigen. Die Beamten zeigten ihm dann die Aufnahmen. Er sagt heute über diesen Moment: „Es ist ein Schock, wenn man dir plötzlich diese Bilder hinlegt und dich fragt: Kannst du dich erinnern?“
Thomas F. ist heute ein junger Mann, der mitten im Leben steht. Er hat eine Ausbildung erfolgreich absolviert, er arbeitet als medizinischer Fachangestellter. Wie es ihm ging, als er von dem Missbrauch erfahren hat? Die Antwort fällt Thomas F. schwer. „Ich hätte nie damit gerechnet, dass mir so etwas widerfährt“, sagt er. Und: „Es gibt eigentlich keine Worte dafür.“Der junge Mann scheint hin- und hergerissen, wenn er vor Gericht von seinen Gefühlen zu Harry S. erzählen muss. Es ist der Mann, der sein Vertrauen übel missbraucht und ihm Schlimmes angetan hat. Doch es ist auch der Mann, von dem Thomas F. sagt, er sei wie ein Vater für ihn gewesen. Thomas S. stellt fest: „Ich muss trotzdem sagen, ohne ihn wäre ich nicht da, wo ich jetzt bin.“
Er hat in der Zeit, in der Harry S. in sein Leben tritt, miserable Noten, wie er selbst sagt. Thomas’ Mutter erzählt als Zeugin vor Gericht, ihr Sohn sei eher verschlossen und in sich gekehrt gewesen. Über das Rote Kreuz, in dem sich Harry S. stark engagiert, finden der Kinderarzt und Thomas’ Mutter Andrea* damals, vor rund zehn Jahren, zueinander. Sie hat gerade die Trennung von ihrem Mann hinter sich. Bald unternimmt man viel gemeinsam. Harry S. wird zu einem Familien- mitglied. Er übernachtet auch oft bei Andrea F. und ihren beiden Söhnen. Sie sagt über den Angeklagten: „Er war ein toller Mensch für mich, er hat mich gestützt, ich habe ihm voll und ganz vertraut.“Vor allem zum jüngeren Sohn Thomas hat Harry S. bald ein enges Verhältnis. Er lernt mit Thomas für die Schule. Er hilft ihm dabei, an den Ausbil- dungsplatz zu kommen. Man fährt gemeinsam in den Urlaub, unter anderem in Freizeitparks in den USA. Andrea F., 46, sagt, Thomas sei damals richtig „aufgeblüht“. Plötzlich sei er ein lebensfrohes, gesprächiges Kind gewesen. Davon, dass Harry S. ihren Sohn heimlich missbraucht, ahnt sie nichts. Zwei Mal, räumt der Angeklagte ein, hat er sich im Jahr 2008 an dem damals Elfjährigen vergangen. Es geschah bei Hotelübernachtungen in Nürnberg und München. S. hatte dem Jungen zuvor das Beruhigungsmittel Tavor gegeben.
Mutter und Sohn müssen sich psychotherapeutisch behandeln lassen, als sie im Jahr 2014 von dem Missbrauch erfahren. Thomas F. sagt, er komme inzwischen ganz gut damit zurecht. Er sei einerseits froh, dass er von den Taten nichts mitbekommen habe. Andererseits versuche er bis heute immer wieder vergeblich, sich an irgendwas zu erinnern. Er sagt auch: „Natürlich kommt es immer mal wieder hoch, das wird so schnell wohl auch nicht wieder aufhören.“
Es ist das zweite Mal, dass Andrea F. und ihr Sohn Thomas vor Gericht aussagen müssen. Harry S. ist schon im März 2016 zu dreizehneinhalb Jahren Haft und Sicherungsverwahrung verurteilt worden, weil er sich an rund 20 Jungen vergangen hat. Doch der Bundesgerichtshof hob das Urteil auf. Der Fall wird deshalb nun neu vor dem Augsburger Landgericht verhandelt. Die Richter müssen dabei vor allem prüfen, ob Harry S. bei seinen Taten angesichts seiner krankhaften sexuellen Neigung voll schuldfähig war. Auch andere Opfer des Arztes oder zumindest deren Eltern werden deshalb jetzt noch mal vor Gericht befragt.
Die bekannte Opferanwältin Marion Zech vertritt Andrea und Thomas
Der junge Mann scheint hin- und hergerissen zu sein
Sie hat Harry S. vergeben – aber nicht verziehen
F. in diesem Verfahren. Sie sagt: „Es hindert den Verarbeitungsprozess schon, wenn man nach so langer Zeit noch einmal aussagen muss.“Die Anwältin rechnet damit, dass Harry S. auch in dem neuen Prozess wieder zu einer hohen Haftstrafe verurteilt wird.
Andrea F. sagt, sie sei noch immer „tief verletzt“, „schwer getroffen“und fühle sich „total belogen“. Obwohl sie zeitweise wie ein Paar zusammenlebten, hatten sie keinen Sex. Er begründete das damit, er habe sich untersuchen lassen und sei asexuell. Andrea F. glaubte diese Lüge. Im ersten Prozess hatte Harry S. die einst enge Freundin um Vergebung gebeten. Nun sagt sie: Harry, ich vergebe dir. Verzeihen kann ich dir nicht, aber auch für dich muss es weitergehen.“Es ist nicht der einzige Schicksalsschlag geblieben für Andrea F.. Vor ein paar Jahren ist auch noch ihre Wohnung komplett ausgebrannt, alles wurde zerstört. Was Harry ihr angetan habe, sagt sie, sei dennoch tausend Mal schlimmer.