Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Justiz nimmt Akademiker in Haft
Groß angelegte Razzien
Istanbul Bei Razzien im Morgengrauen hat die türkische Polizei am Freitag mehrere Akademiker festgenommen, darunter den Leiter eines angesehenen Europa-Instituts und den Vize-Dekan der juristischen Fakultät einer anderen Hochschule. Die Aktion war ein weiterer Schlag gegen Vertreter der Zivilgesellschaft: Die Beschuldigten arbeiteten mit der Stiftung des Kunstmäzens Osman Kavala zusammen, der seit mehr als einem Jahr ohne Anklage in Haft sitzt. Ihnen wird vorgeworfen, die Gezi-Unruhen des Jahres 2013 mitorganisiert zu haben. Nun droht neuer Streit zwischen der Türkei und der EU.
Selbst nach den Maßstäben der türkischen Justiz waren die Festnahmen vom Freitag außergewöhnlich. Statt die Verdächtigen zur Vernehmung vorzuladen, ließ die Staatsanwaltschaft die Polizei in mehreren Landesteilen zeitgleich in den frühen Morgenstunden ausrücken, um die Akademiker festzunehmen. Eine Beraterin der KavalaStiftung, Cigdem Mater, wurde bei Arbeiten an einem Film im südtürkischen Kas gefasst. Insgesamt wurden 20 Person zur Festnahme ausgeschrieben; 13 von ihnen befanden sich am Nachmittag in Haft.
Die Festnahmen stützten sich auf vage Anschuldigungen angeblich staatsfeindlicher Aktivitäten, die an die absurden Vorwürfe gegen den Berliner Menschenrechtler Peter Steudtner im vergangenen Jahr erinnerten. Steudtner war wegen der Teilnahme an einem Seminar inhaftiert worden. Am Freitag verwies die Staatsanwaltschaft in einer Pressemitteilung auf den Verdacht, Kavala habe vor fünf Jahren die GeziUnruhen organisiert und damit den Sturz der Regierung angestrebt. Die Festnahmen wurden damit begründet, dass sich die Verdächtigen in einer von Kavala angeführten „Hierarchie“befunden hätten. In diesen Rollen hätten sie die Gezi-Proteste ausweiten wollen, ausländische Aktivisten in die Türkei gebracht und neue Protestaktionen angestrebt.
Schockierend waren die Festnahmen auch, weil sie angesehene Vertreter der türkischen Hochschulen trafen. Ali Hakan Altinay, Leiter der „European School of Politics“, eines Projekts der Kavala-Stiftung und des Europarats, war ebenso darunter wie Turgut Tarhanli, der stellvertretende Dekan der juristischen Fakultät der Bilgi-Universität, die zu den besten Hochschulen des Landes zählt.
Mit den Festnahmen wächst die Angst türkischer Intellektueller vor Verfolgung – tausende sind bereits ins Ausland geflohen, weil sie dem Druck entgehen wollen oder weil sie ihre Posten verloren haben.