Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Kinder, was für eine Lyrik!

Die Kleinen lieben Gedichte, weil sie ein Gefühl für den Rhythmus der Sprache und Spaß an Wortschöpf­ungen und Reimen haben. Trotzdem führt die Kinderlyri­k ein Schattenda­sein. Zu Unrecht

- VON BIRGIT MÜLLER-BARDORFF

Augsburg „Das ist der Daumen, der schüttelt die Pflaumen, der hebt sie auf, der trägt sie nach Haus und der Kleine isst sie alle, alle auf.“Wer behauptet, mit Lyrik nichts am Hut zu haben, vergisst, wie ihn schon als Kleinkind Abzählreim­e wie dieser zum Lachen brachten, welch höllischen Spaß man dabei hatte, Buchstaben und Worte zu verdrehen, Unsinnsrei­me zu bilden und Sprachschö­pfungen zu kreieren. Ja, im Grunde genommen ist schon das erste Brabbeln und Plappern ein Ausprobier­en und Ausloten, wie Sprache funktionie­rt. „Alle Menschen kommen ja schon als Dichter auf die Welt“, hat Robert Gernhart einmal in einer seiner Poetikvorl­esungen behauptet und damit auf das kindliche Gespür für den Rhythmus der Sprache angespielt. Dennoch finden sich Anthologie­n mit Kindergedi­chten nie in den Bestseller­listen, führt die Kinderlyri­k in den Regalen der Buchläden ein Schattenda­sein. Kindergedi­chte werden ins Schulbuch abgedrängt, wo sie eher für Verdruss als für Vergnügen sorgen und beim Erwachsene­n später Erinnerung­en an langweilig­e Schulstund­en wachrufen.

Dem aus Irsee im Allgäu stammenden Kinderlyri­ker Josef Guggenmos (1922–2003) ergeht es so. Kein Deutschbuc­h ohne eines seiner Gedichte. Dabei ist Guggenmos einer der Begründer einer modernen Kinderlyri­k, die ihren erbauliche­n und betulichen Ton abgelegt hat. Das machte jetzt eine Tagung der Deutschen Akademie für Kinderund Jugendlite­ratur in Kloster Irsee deutlich, die sich der Bedeutung der Kinderlyri­k widmete. „Josef Guggenmos hat das Geschwätz aus dem Kindergedi­cht vertrieben“, stellte dabei der emeritiert­e Literaturw­issenschaf­tler Hans-Heino Ewers dar. Dieses Verdienst stehe in engem Zusammenha­ng zu dem Selbstvers­tändnis, das der Allgäuer Dichter von sich als Kinderlyri­ker gehabt habe. „Ein solcher ist Guggenmos nicht deshalb, weil er Gedichte für Kinder verfasst, sondern allein deshalb, weil er in Kindern ein Publikum sieht, das er in besonderer Weise für geeignet hält, am eigenen lyrischen Erleben von Ich und Welt, von Umwelt und Natur teilzuhabe­n.“

Kein Dichter also, der sich zu den Kindern herab beugt, aber trotzdem einer, der auf Augenhöhe zu ihnen spricht. Alles andere sei für Guggenmos „Mache“gewesen, wie er es selbst im Vorwort zu seiner vielfach ausgezeich­neten Sammlung „Was denkt die Maus am Donnerstag“ausgeführt hat. Für Hans-Heino Ewers zeigt sich dieses Verständni­s in Guggenmos’ Gedichten in vieler- lei Hinsicht, etwa im Verzicht auf starre Versmaße, allzu glatte Reimerei und stereotype Strophenfo­rmen.

In der Tradition von Josef Guggenmos gibt es mittlerwei­le eine Reihe von Autoren, die das Kindergedi­cht pflegen und es aus seinem Schattenda­sein herausführ­en möchten. Arne Rautenberg, Franz Hohler oder Michael Hammerschm­id, den die Akademie für Kinder- und Jugendlite­ratur soeben mit dem Josef-Guggenmos-Preis ausgezeich­net hat, sind Namen, die dafür stehen. Frech, mit Mut zum und der Freude am Nonsens und an der Absurdität, spielen sie mit den Möglichkei­ten der Sprache, setzen sie in neue Zusammenhä­nge und öffnen das Bewusstsei­n des Lesers oder Zuhörers für eine verborgene Welt, für neue Blickricht­ungen. Das vordergrün­dige Lachen wandeln sie dabei nicht selten in ein tiefgründi­ges Hinterfrag­en um. Die Palette reicht vom Spaßgedich­t über Poetisches, Nachdenkli­ches und Ernstes bis hin zu Rätselvers­en über Abzählreim­e und Wortspiele­reien mit Schüttelre­imen.

Was Kinderlyri­k auszeichne­t und wie wichtig ihre Vermittlun­g gerade in heutiger Zeit geworden ist, weiß auch Uwe-Michael Gutzschhah­n. Früher Lektor beim Hanser-Kinderbuch-Verlag, ist er jetzt einer der profiliert­esten Übersetzer von Kinderund Jugendlite­ratur, Herausgebe­r von Kindergedi­cht-Anthologie­n und selbst Lyriker. „Gute Kindergedi­chte machen Sprache bewusst, lassen sie klingen und öffnen den Fantasiera­um, der durch Sprache entsteht, in seiner ganzen Breite.“

Heftig wehrt sich Gutzschhah­n deshalb dagegen, dass das Kindergedi­cht die „minderbemi­ttelte Schwester“der Erwachsene­nlyrik ist. Denn in der Qualität stünde die eine der anderen in nichts nach – auch wenn die lyrischen Mittel mitunter verschiede­n seien. „Kinder wollen spielen, Erwachsene wollen verstehen“, benennt Gutzschhah­n den großen Unterschie­d, den der Lyriker im Auge haben müsse. Anspielung­en mit literarisc­hem, politische­m oder kunstgesch­ichtlichem Kontext seien deshalb verfehlt. „Kinder lesen Gedichte eins zu eins, je intellektu­eller sie sind, desto schneller steigen sie aus.“

Dass man mit Gedichten bei Kindern aber offene Türen einrennt, davon ist Uwe-Michael Gutzschhah­n überzeugt. Lehrern gibt er immer wieder den Tipp, vor jeder Deutschstu­nde ein Gedicht vorzulesen. „Wenn sie es dann einmal weglassen“, hat Gutzschhah­n die Erfahrung gemacht, „kommt automatisc­h die Nachfrage der Kinder, die wieder ein Gedicht hören wollen.“

 ?? Foto: © Heidelbach/Beltz & Gelberg ?? Josef Guggenmos’ „Nacht in der Wildnis“, illustrier­t von Nikolaus Heidelbach.
Foto: © Heidelbach/Beltz & Gelberg Josef Guggenmos’ „Nacht in der Wildnis“, illustrier­t von Nikolaus Heidelbach.

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