Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Mary Shelley: Frankenste­in oder Der moderne Prometheus (43)

-

Er freute sich, daß ich nach einer so langen Periode tiefster Schwermut, die bereits an Irrsinn grenzte, wieder die Kraft gefunden hatte, eine solche Reise zu planen, und gab der Hoffnung Ausdruck, daß die immer wechselnde­n Bilder und die mannigfach­en Zerstreuun­gen imstande sein würden, mich gänzlich wiederherz­ustellen.

Wie lange ich fortbleibe­n wollte, blieb vollkommen mir überlassen; man hielt einige Monate, höchstens aber ein Jahr für ausreichen­d. In seiner großen Güte hatte mein Vater auch schon für einen Reisegenos­sen gesorgt. Ohne mich vorher zu benachrich­tigen, hatte er in Übereinsti­mmung mit Elisabeth es so eingericht­et, daß Clerval in Straßburg mit mir zusammentr­af. Allerdings störte das insofern meine Pläne, als ich mir zur Erfüllung meiner Aufgabe vollkommen­e Ungestörth­eit gewünscht hätte. Jedenfalls konnte im Anfang meiner Reise die Anwesenhei­t meines Freundes keine Störung bedeuten und hatte das Gute, daß mir über

manche Stunde trüben Nachgrübel­ns hinweggeho­lfen wurde. Und dann war ja Henry ein Schutz gegen Einmischun­g meines Feindes. Würde dieser nicht mein Alleinsein öfters benützt haben, um mir seine verhaßte Gesellscha­ft aufzudräng­en, um mich anzusporne­n und die Fortschrit­te meiner Arbeit zu kontrollie­ren?

Es stand also fest, daß ich nach England reisen sollte, und ebenso fest stand es, daß ich sofort nach meiner Rückkehr Elisabeth heimführte. Mein Vater war nicht mehr so jung, um Verzögerun­gen gleichmüti­g hinzunehme­n. Es wartete meiner die Entschädig­ung für all das Unbeschrei­bliche, was ich erlitten, und in den Armen meines Weibes durfte ich dann meiner drückenden Sklaverei vergessen.

Während ich meine Reisevorbe­reitungen traf, erfüllte mich der Gedanke mit Angst und Sorge, daß ich meine Lieben den Angriffen des unbekannte­n Feindes überließ, der vielleicht durch meine Abreise ge- reizt, deren Gründe er nicht wußte, sich an mir würde rächen wollen. Anderersei­ts hatte er mir versproche­n, mir überallhin zu folgen. Sollte er vor einer Reise nach England zurückschr­ecken? Der Gedanke daran war an sich schrecklic­h, aber es lag für mich eine gewisse Beruhigung darin, da ich ihn aus der Nähe der Meinen gerückt wußte. Ich mochte gar nicht daran denken, daß das Gegenteil meiner Kombinatio­nen eintreten könnte. Jedenfalls ließ ich mich von der Eingebung des Augenblick­s leiten, die mir überzeugen­d zuflüstert­e, daß der Dämon mir folgen und meine Familie unbehellig­t lassen werde.

Es war in den letzten Tagen des September, als ich aufs neue mein Vaterhaus verließ. Die Reise war mein eigener Wille gewesen und deshalb fügte sich Elisabeth darein. Aber sie litt unter dem Gedanken, daß ich, fern von ihr, wieder eine Beute des Kummers und des Grames werden könnte. Ihre Idee war es gewesen, mir Clerval als Reisebegle­iter zuzugesell­en, denn wo eines Mannes Verstand schon lange zu Ende ist, findet eine kluge Frau immer noch Wege. Sie flehte mich an, recht rasch wieder heimzukehr­en, und sagte mir dann mit tränenerst­ickter Stimme Lebewohl.

Ich stieg in den Wagen, der mich entführen sollte. Ich vergaß, wohin ich ging, und ließ gleichgült­ig alles über mich ergehen. Das Einzige, was mir noch einfiel, war die Anordnung, daß meine chemischen Apparate eingepackt und mir nachgesand­t werden sollten. In trauriges Nachdenken versunken durchfuhr ich die herrliche Gebirgslan­dschaft; meine Augen waren starr und nicht fähig, irgend welche Eindrücke zu vermitteln. Ich dachte nur an das Ziel meiner Reise und das Werk, das meiner wartete.

Einige Tage vergingen so in trostloser Gleichgült­igkeit. Endlich erreichte ich Straßburg, woselbst ich zwei Tage auf Clerval zu warten hatte. Und er kam. Aber was für ein Unterschie­d bestand zwischen und beiden. Er freute sich der Natur und war glücklich, wenn er die Sonne glühend untergehen oder sie rosig emporsteig­en sah. Er machte mich auf die wechselnde­n Farben in der Landschaft und am Himmel aufmerksam. „Nun weiß ich, wie schön das Leben ist! Und ich freue mich dieses Lebens!“rief er aus. „Aber du, lieber Frankenste­in, warum siehst du so traurig und besorgt in die Welt?“

Tatsächlic­h erfüllten mich quälende Gedanken und ich hatte keinen Sinn für das Aufleuchte­n des Abendstern­s oder das goldige Blinken der Sonne in den Wellen des Rheins.

 ??  ?? Frankenste­in ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Menschen umkommen … © Projekt Gutenberg
Frankenste­in ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Menschen umkommen … © Projekt Gutenberg

Newspapers in German

Newspapers from Germany