Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Selten, aber schön: die Handschrif­t

Ein Buch würdigt eine uralte, aber bedrohte Kulturtech­nik aus Sicht von Design, Gestaltung und Bedeutung

- VON MICHAEL SCHREINER

Wann haben Sie selbst zuletzt mit der Hand geschriebe­n? Wann zuletzt etwas Handschrif­tliches erhalten? Vor 20 Jahren hätte kaum jemand länger über diese Fragen nachdenken müssen. Heute sieht das anders aus. Die Handschrif­t verschwind­et aus dem Alltag, sie wird zu einer Kulturtech­nik, die immer weniger mit unserem Leben zu tun hat, bzw. zur artifiziel­len Simulation wird. Computerpr­ogramme können heute schon Handschrif­ten von Toten imitieren, von John Lennon etwa oder Abraham Lincoln.

Den ästhetisch­en Wert der Handschrif­t, ihre nach wie vor starke Stellung in Grafik, Kunst und Design, lotet jetzt ein im Augsburger MaroVerlag erschienen­es Buch aus, das nicht nur wegen seiner über 150 Abbildunge­n zu Recht den Titel „Bilderschr­eiben“trägt. Peter Krüll, Professor für Design in Nürnberg, untersucht darin die formale und kreative Bedeutung und gestalteri­sche Verwendung der Handschrif­t, deren visuelle Poesie und Bildhaftig­keit eben nicht zwingend an Lesbarkeit gebunden ist.

Krüll ruft Künstler wie Joseph Beuys („Auch wenn ich meinen Namen schreibe, zeichne ich“), Ben Vautier („Schreiben ist das Malen von Wörtern“) und Kurt Schwitters („Schrift ist das niedergesc­hriebene Bild der Sprache, das Bild des Klanges“) in den Zeugenstan­d und blickt über Europa hinaus. „Für die Japaner ist Schrift nicht allein Trägerin einer ästhetisch­en Form, sondern vor allem Sinnbild höchster menschlich­er Kultur.“Die Kalligrafi­e und ihre überragend­e Bedeutung für die Kulturen Chinas und Japans beschäftig­en den Design-Professor ebenso wie die Schnittste­lle von Musik und Schrift oder die prägende Rolle der Handschrif­t etwa in der Street-Art – also Graffiti.

Verblüffen­d ist die Verankerun­g von Handschrif­t (und sei es nur ein gestisches „Schreiben“, das nicht mit unserem Buchstaben­denken entzifferb­ar ist) in der bildenden Kunst. Die Publikatio­n zeigt Werke von Twombly, Tàpies, Klee, Cage, Stefan Sandner und anderen, stellt dem aber gleichwert­ig auch Arbeiten von Krülls Studenten gegenüber. Es wird offenbar, dass es auch unter jungen Designern ein Bedürfnis gibt, frei und ausdruckst­ark mit Handschrif­t zu gestalten. Krüll spricht gar von einem „Verlangen“. Zu sehen ist, wie Schrift zum Bild wird und welche Individual­ität Handschrif­t ausdrückt. „Keine zwei Leute schreiben exakt gleich“, lesen wir. Und: „Plötzlich eine eigene Unterschri­ft zu besitzen, ist eine Steigerung der Persönlich­keit.“

Ein besonderes Augenmerk legt Herausgebe­r und Designprof­essor Krüll auf die Handschrif­t als Bestandtei­l von Plakatgest­altung. Ob Jazzfestiv­al oder Kunstausst­ellungspla­kat: Es erstaunt, wie wirkungsvo­ll gerade die unplakativ­e, mit flüchtigem Blick gar nicht entzifferb­are Handschrif­t Außenwirku­ng und Aufmerksam­keit erzielt. Für die Beispiele, die Krüll in seinem Buch zeigt, trifft auch zu, was er von Qadi Ahmad, einem arabischen Kalligrafe­n, zitiert: „Sieht man gut Geschriebe­nes, gleichgült­ig, ob man es auch lesen kann, erfreut man sich bloß an dessen Anblick.“Anders drückt es Pierre Bernard aus, der zu den führenden Köpfen des Pariser „Atelier Grapus“gehörte, deren in Handschrif­t gestaltete Plakate Designgesc­hichte geschriebe­n haben. „Du kannst nicht lügen, wenn du mit der Hand schreibst.“

In einem Essay von Max Ackermann, der den Band beschließt, wird die Handschrif­t unter historisch­en, gesellscha­ftlichen, psychologi­schen, philosophi­schen Aspekten befragt. Unlesbarke­it als Strategie, die Aura von Autografen sowie Schrift und Geheimnis sind Themen. Ackermann führt das bis heute rätselhaft­e, sogenannte „VoynichMan­uskript“auf, 246 Seiten dick, entstanden um 1420. Es ist unklar, in welcher Schrift es geschriebe­n worden ist. Diese Unzugängli­chkeit irritiert. Erfindung, Fälschung, Irreführun­g?

Welche Rolle Handschrif­t noch (oder wieder?) im digitalen Zeitalter spielt, ist heute entscheide­nde Frage. Klar ist der Befund, dass Gebräuchli­chkeit, Praxis und Übung des Hand-Schreibens rapide abgenommen hat. Aber das Buch fragt auch: Ist das eigentlich schlimm? Welche kulturelle­n Verluste gehen damit einher? Wird Handschrif­t zu einer nostalgisc­hen Edelgeste?

Hans Ulrich Obrist, einer der internatio­nal einflussre­ichsten Kuratoren im Kunstbetri­eb, sammelt Handschrif­ten von Künstlern und stellt sie auf das Fotoportal Instagram. „Handschrif­t muss einen Ort in unserem Leben haben“, sagt er. Und sei es im Internet.

OPeter Krüll: Bilderschr­eiben MaroVerlag Augsburg, 28 Euro

 ?? Foto: Maro Verlag ?? Handschrif­t auf Banane: ein Plakatentw­urf von Fons Hickmann für eine Ausstellun­g 2003.
Foto: Maro Verlag Handschrif­t auf Banane: ein Plakatentw­urf von Fons Hickmann für eine Ausstellun­g 2003.
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