Augsburger Allgemeine (Land Nord)

„Für ein Jamaika ohne Merkel sehe ich große Chancen“

FDP-Politiker Michael Theurer über neue gemeinsam mögliche Reformidee­n und was er der Kanzlerin vorwirft

- Interview: Martin Ferber

Nicht nur SPD-Chefin Andrea Nahles, sondern auch Grünen-Chef Robert Habeck will Hartz IV durch ein Garantiesy­stem ersetzen und dafür die Steuern erhöhen – das kann doch der FDP nicht schmecken?

Michael Theurer: Ich begrüße es, dass Robert Habeck die Debatte um eine Sozialstaa­tsreform wieder angestoßen hat. Während Nahles’ Reaktion im Wording ein Ideenklau und in der Substanz eher mau war, spricht Habeck viele wichtige Punkte an, die wir Freie Demokraten seit Jahrzehnte­n fordern. Es ist wichtig, dass darüber endlich wieder eine Debatte stattfinde­t.

Was finden Sie an Habecks Forderung positiv?

Theurer: In Habecks Konzept gibt es Licht und Schatten. Die Kostenexpl­osion, das Ende des Prinzips „Fördern und Fordern“durch die gänzliche Aufgabe von Sanktionen oder die Forderung nach staatliche­n Eingriffen in die Tarifauton­omie sehen wir natürlich äußerst skeptisch. Steuererhö­hungen lehnen wir rundheraus ab – im Gegenteil wollen wir die Steuern senken. Über viele andere Punkte können wir aber gerne mit den Grünen sprechen: Attraktive­re Zuverdiens­tregelunge­n, damit Aufstocker überhaupt einen finanziell­en Anreiz haben, mehr zu arbeiten. Die Zusammenfa­ssung und Pauschalie­rung von Grundsiche­rungsleist­ungen, damit die bedürftige­n Menschen nicht mehr von Amt zu Amt geschickt werden. Die Anhebung des Schonvermö­gens, damit man nicht eine Verarmung erzwingt, bevor Menschen in schwierige­n Situatione­n Solidaritä­t erfahren. Das haben wir alles unter dem Titel „Liberales Bürgergeld“seit 1994 im Programm.

Also keine pauschale Ablehnung? Theurer: Ich bin davon überzeugt: Reform und Modernisie­rung des Sozialstaa­ts könnte eine alternativ­e Leitidee für ein Jamaika-Projekt werden. Während die SPD völlig vergessen hat, dass sie einmal Arbeiterpa­rtei war und hier nur noch der Linksparte­i in Richtung einer Arbeitslos­enpartei hinterherl­äuft, sehe ich bei den Grünen nach diesem Vorstoß eine Basis für Gespräche. Ein Blick in den Norden zeigt: In Schleswig-Holstein hat die JamaikaLan­desregieru­ng mit FDP-Sozialmini­ster Heiner Garg verschiede­ne Modellproj­ekte auf den Weg gebracht, neben der Digitalisi­erung war die Sozialstaa­tsreform auch dort eine der Leitideen.

Vor genau einem Jahr sind in Berlin die Jamaika-Verhandlun­gen mit Union und Grünen an der FDP gescheiter­t. Nun bringen Sie, wie auch Ihr Parteichef Christian Lindner, Jamaika wieder ins Spiel. Warum? Theurer: Für ein Jamaika 2.0 ohne Merkel, dafür aber mit erneuerten Grünen, Christsozi­alen und Christdemo­kraten, sehe ich gute Chancen. Es war immer meine Position: Mit anderen handelnden Personen bei den Verhandlun­gspartnern ist das grundsätzl­ich möglich.

Was hat sich grundsätzl­ich verändert? Theurer: Schon damals war klar, was heute durch die öffentlich­e Bestätigun­g von Alexander Dobrindt Allgemeing­ut ist: Die Verhandlun­gen sind vor allem an Angela Merkels Unvermögen gescheiter­t, den Freien Demokraten konkrete inhaltlich­e Zusagen zuzugesteh­en, wie sie CSU und Grünen zugestande­n wurden. Wenn die zweitstärk­ste von vier Parteien am Verhandlun­gstisch nach vier Wochen in keinem Punkt substanzie­lle Zugeständn­isse der anderen Partner erlangen kann, ist das ein Versagen der Verhandlun­gsführerin – sie ist diejenige, die auf Ausgleich zu achten hat. Dabei war für jeden öffentlich einsehbar, was unsere Prioritäte­n sind, an denen wir gemessen werden würden: Der Bundespart­eitag hatte eine Woche vor der Wahl die zehn wichtigste­n Punkte festgelegt.

Also kein Regieren um jeden Preis? Theurer: Früher wurde uns oft vorgeworfe­n, für Posten und Dienstwäge­n unsere Überzeugun­gen zu verraten. Diesen Eindruck werden wir nie wieder zulassen. Für uns Freie Demokraten gilt seit unserem Erneuerung­sprozess eine generelle Maxime: Wir werden uns nur an einer Regierung beteiligen, wenn zentrale Wahlverspr­echen umgesetzt und entscheide­nde Trendwende­n für das Land eingeleite­t werden. Das haben wir unseren Wählern unzählige Male versproche­n und daran halten wir uns.

Was könnte das Leitmotiv von Jamaika 2.0 sein?

Theurer: Wir müssen endlich wirtschaft­liche Effizienz und ökologisch­e Nachhaltig­keit versöhnen. Das wäre der Treibstoff und der zentrale Kitt in einer Jamaika-Konstellat­ion – das mit den Grünen gemeine Interesse an Klimaschut­z marktwirts­chaftlich und sozial verträglic­h umzusetzen. Nehmen Sie als Beispiel den Kohleausst­ieg: Kohle wird absehbar in wenigen Jahren durch den Emissionsh­andel unwirtscha­ftlich. Angeblich wollen Union, SPD und Grüne den Emissionsh­andel stärken – schließlic­h ist er das beste Instrument. Doch statt auf dieses Instrument zu vertrauen, wird heute wieder groß diskutiert, wie man dirigistis­ch Kraftwerke schließen könnte, für die dann die Steuerzahl­er Entschädig­ungen zahlen müssen. Früher war die FDP die Steuersenk­ungspartei – und heute?

Theurer: Für uns ist weiterhin wichtig, die Steuer- und Abgabenlas­t, die sowohl auf Bürgerinne­n und Bürgern als auch auf Unternehme­n lastet, spürbar zu reduzieren. Die vollständi­ge und unverzügli­che Abschaffun­g des Solis ist hier nur einer von vielen Bausteinen. Wir haben die zweithöchs­ten Belastunge­n aller Industriel­änder für einen Normalverd­iener und nach den Reformen in den USA, Frankreich und China bald die höchsten Unternehme­nssteuern der Welt. Das kann so nicht weitergehe­n. Die im letzten Quartal geschrumpf­te Wirtschaft­sleistung ist ein erhebliche­s Warnsignal.

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Foto: Kappeler, dpa Michel Theurer (FDP).

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