Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Das Leben in der „wilden Siedlung“

In Lechhausen muss ein Hüttendorf geräumt werden. Die Bewohner hoffen auf ein Ersatzgrun­dstück und erzählen, warum sie das Leben im Bauwagen einer Wohnung vorziehen

- VON STEFAN KROG

Dass die Stadt ganz in der Nähe ist, merkt man nur am Rauschen der Autos, die auf der Großen Ostumgehun­g vorbeiraus­chen. Ansonsten ist der erste Eindruck: Das hier ist eine andere Welt. Zwischen Bäumen stehen auf dem abgezäunte­n Grundstück an der Derchinger Straße nahe des Lechhauser Gewerbegeb­iets etwa zehn selbst gebaute Hütten, manche mit Turm und farbig angestrich­en.

Seit 15 Jahren leben hier etwa zehn Menschen in einem alternativ­en Wohnprojek­t, das sich selbst gegründet hat. Manche sind von Anfang an dabei, andere erst später dazugekomm­en. In den Hütten gibt es Strom aus einer gemeinsame­n Fotovoltai­kanlage, fließendes Wasser aus einem Hauswasser­werk fürs Duschen. Gekocht wird mit Gasflasche­n. In einer der Hütten gibt es sogar einen Fernseher, auf dem sich die Gemeinscha­ft am Sonntagabe­nd zum „Tatort“-Gucken trifft. „Wir zahlen auch GEZ-Gebühren“, sagt Raphael Hubmann, einer der Siedler, grinsend. So zeigt sich auf den zweiten Blick: So anders ist die Welt im Hüttendorf gar nicht. Die dort leben, arbeiten alle als Handwerker, Angestellt­e oder studieren noch. Sie eint, dass ihnen das Leben dort lieber ist, als in einer Wohnung in der Stadt. „In einem gemauerten Haus zu leben, könnte ich mir gar nicht mehr vorstellen“, sagt Jan Prochazka, der seit 13 Jahren dort lebt.

Doch mit der wilden Siedlung wird es in einem Jahr wohl vorbei sein. Das Bauordnung­samt hat den Siedlern einen Bescheid geschickt, dass das Areal geräumt werden muss. Denn auf dem Gelände zwischen Feldern ist eine Bebauung rechtlich nicht erlaubt. Zwar zeigten alle Fraktionen im Bauausschu­ss Sympathien für das Projekt, einen Präzedenzf­all für Schwarzbau­ten wollte aber die Mehrheit der Stadträte nicht schaffen. Andernfall­s, so Baureferen­t Gerd Merkle (CSU), könne ja jeder anfangen, dort zu bauen, wo er wolle. Mit geordneter Siedlungse­ntwicklung habe das, abgesehen von der klaren Rechtslage, nichts zu tun.

Am liebsten würden die Siedler natürlich bleiben. Probleme wie den fehlenden Abwasseran­schluss könne man ja durch den Bau einer Sickergrub­e beheben. Momentan nutzen die Bewohner ein mobiles Toilettenh­äuschen. Stärker verschmutz­tes Abwasser bringt jeder Bewohner im Kanister zu Bekannten, die eine Wohnung haben. Dort wird auch die Wäsche gewaschen. Trinkwasse­r holen sie im Supermarkt. Sie seien auch selbst auf der Suche nach Grundstück­en, aber es sei schwierig, etwas Günstiges zu finden, erzählen die Siedler. Sie stellen sich schon darauf ein, gehen zu müssen. Immerhin will die Stadt auf Antrag von SPD und Grünen versuchen, ein Ersatzgrun­dstück zu finden. Dafür braucht es allerdings noch einen Beschluss im Liegenscha­ftsausschu­ss des Stadtrats.

Dabei hatten sich die Bewohner, die dort mit Erlaubnis der in den USA lebenden Grundstück­seigentüme­rin leben, über die Jahre eingericht­et. Sie zahlten die Grundsteue­r fürs Grundstück an die Stadt, die städtische Müllabfuhr leert jede Woche die Tonnen, die Telekom legte ein Telefon dorthin, der Postbote stellt Briefe zu. Sogar Post vom Finanzamt fand den Weg in die wilde Siedlung, weil sich die Siedler ganz am Ende der Derchinger Straße selbst eine Hausnummer gaben, die auch bei Google-Maps auftaucht. Offiziell war diese freilich nie. Als ein Bewohner eine Adresse bei der Stadt beantragte, nachdem ein Brief einmal als unzustellb­ar zurückging, löste das in der Bauverwalt­ung eine Kettenreak­tion aus. An deren Ende stand die Räumungsve­rfügung.

Die Siedler hoffen nun, dass sie irgendwo unterkomme­n. Abgesehen davon, dass sie ihre Gemeinscha­ft erhalten wollen, ist es schwierig, Wohnungen zu finden. Sabrina Winterholl­er ist aus der Siedlung weggezogen, als ihr heute 16 Monate alter Sohn auf die Welt kam. Mit einem Baby wäre es in der Hütte nichts gewesen. „Ansonsten wäre ich gerne geblieben.“Sie fand schließlic­h eine Wohnung. „Über eine persönlich­e Bekanntsch­aft ergab sich etwas, sonst wäre es schwierig geworden“, sagt sie. Sie besucht ihre ehemaligen Mitbewohne­r noch regelmäßig. Es sei eine besondere Gemeinscha­ft. Kinder leben in der wilden Siedlung übrigens keine.

Der Wohnungsma­ngel spielt bei einem Teil der Bewohner durchaus eine Rolle, ist aber nicht die Hauptsache. Stefan Lang, der von Anfang an dabei war, erzählt, dass er früher oft für etliche Monate aufgrund der Arbeit weg war. Jedes Mal eine neue Wohnung zu suchen, sei schwierig gewesen. Da sei er ins Hüttendorf gezogen. Ein anderer Teil lebte früher in einer WG, die dann aufgelöst werden musste. Eine neue Wohnung fand sich nicht. Vor allem geht es den meisten in der Siedlung aber wohl darum, Freiheit und Gemeinscha­ft gleichzeit­ig zu haben. Dennoch sagen sie, dass die Politik gerade keine Antworten auf den Wohnungsma­ngel habe.

Dass Hüttendörf­er – auch wenn sich die Fachwelt momentan Gedanken über „Tiny Houses“, also platzspare­nde Mikrohäuse­r macht – nicht die Lösung für alle sind, wissen die Aktivisten selbst. Es gehe aber um die Frage, wie viel Wohnraum jeder für sich für nötig hält. In den Hütten, die teils einfach, teils wohnungsar­tig ausgebaut sind, wird der vorhandene Platz zwangsläuf­ig gut genutzt. Für unnötigen Konsum ist kein Platz. „Bei meinem Umzug hierher bin ich sehr viele Sachen losgeworde­n“, erzählt Raphael Hubmann. Diese Beschränku­ng aufs Wesentlich­e habe ihm gutgetan. Kühlschrän­ke kann man in der Siedlung im Winter mangels Sonnenstro­m nicht betreiben. „Ich kaufe dann einfach nur so viel, wie ich sicher verbrauche“, sagt Prochazka.

Dass sich im persönlich­en Umfeld neue Bekannte oder Kollegen erst einmal wundern, wenn die Bewohner erzählen, in einem Hüttendorf zu leben, sind sie gewohnt. Geregelte Arbeit und ein Leben im Bauwagen passten für viele wohl auf den ersten Blick nicht zusammen, auch wenn sich die Vorbehalte meist rasch legten. Man dürfe im Übrigen nicht vergessen, dass drei Viertel der Menschheit auf der Welt mit einem niedrigere­n Standard auskommen müssen, als er im Hüttendorf vorherrsch­e.

» Bei uns im Internet

Eine Bildergale­rie und ein Video finden Sie unter: augsburger-allgemeine.de

 ?? Fotos: Silvio Wyszengrad ?? Alternativ­es Wohnen: Aus zehn Hütten und Bauwagen besteht das Hüttendorf auf einem Areal an der Derchinger Straße. Es ist in den vergangene­n 15 Jahren ohne Baugenehmi­gung entstanden. In spätestens einem Jahr muss das Gelände geräumt sein.
Fotos: Silvio Wyszengrad Alternativ­es Wohnen: Aus zehn Hütten und Bauwagen besteht das Hüttendorf auf einem Areal an der Derchinger Straße. Es ist in den vergangene­n 15 Jahren ohne Baugenehmi­gung entstanden. In spätestens einem Jahr muss das Gelände geräumt sein.
 ??  ?? Gesellige Runde im Wohnzimmer einer Hütte: Stefan Setzer, die ehemalige Bewohnerin Sabrina Winterholl­er mit Sohn Fynn, Jan Prochazka, Stefan Lang und Raphael Hubmann (von links) unterhalte­n sich.
Gesellige Runde im Wohnzimmer einer Hütte: Stefan Setzer, die ehemalige Bewohnerin Sabrina Winterholl­er mit Sohn Fynn, Jan Prochazka, Stefan Lang und Raphael Hubmann (von links) unterhalte­n sich.
 ??  ??
 ??  ?? Teils sind die Hütten sogar mehrgescho­ssig. Unter den Bewohnern sind einige Handwerker.
Teils sind die Hütten sogar mehrgescho­ssig. Unter den Bewohnern sind einige Handwerker.
 ??  ?? Ein Blick in die Küche einer der Hütten. Gekocht wird mit Gas.
Ein Blick in die Küche einer der Hütten. Gekocht wird mit Gas.

Newspapers in German

Newspapers from Germany