Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Das Leben in der „wilden Siedlung“
In Lechhausen muss ein Hüttendorf geräumt werden. Die Bewohner hoffen auf ein Ersatzgrundstück und erzählen, warum sie das Leben im Bauwagen einer Wohnung vorziehen
Dass die Stadt ganz in der Nähe ist, merkt man nur am Rauschen der Autos, die auf der Großen Ostumgehung vorbeirauschen. Ansonsten ist der erste Eindruck: Das hier ist eine andere Welt. Zwischen Bäumen stehen auf dem abgezäunten Grundstück an der Derchinger Straße nahe des Lechhauser Gewerbegebiets etwa zehn selbst gebaute Hütten, manche mit Turm und farbig angestrichen.
Seit 15 Jahren leben hier etwa zehn Menschen in einem alternativen Wohnprojekt, das sich selbst gegründet hat. Manche sind von Anfang an dabei, andere erst später dazugekommen. In den Hütten gibt es Strom aus einer gemeinsamen Fotovoltaikanlage, fließendes Wasser aus einem Hauswasserwerk fürs Duschen. Gekocht wird mit Gasflaschen. In einer der Hütten gibt es sogar einen Fernseher, auf dem sich die Gemeinschaft am Sonntagabend zum „Tatort“-Gucken trifft. „Wir zahlen auch GEZ-Gebühren“, sagt Raphael Hubmann, einer der Siedler, grinsend. So zeigt sich auf den zweiten Blick: So anders ist die Welt im Hüttendorf gar nicht. Die dort leben, arbeiten alle als Handwerker, Angestellte oder studieren noch. Sie eint, dass ihnen das Leben dort lieber ist, als in einer Wohnung in der Stadt. „In einem gemauerten Haus zu leben, könnte ich mir gar nicht mehr vorstellen“, sagt Jan Prochazka, der seit 13 Jahren dort lebt.
Doch mit der wilden Siedlung wird es in einem Jahr wohl vorbei sein. Das Bauordnungsamt hat den Siedlern einen Bescheid geschickt, dass das Areal geräumt werden muss. Denn auf dem Gelände zwischen Feldern ist eine Bebauung rechtlich nicht erlaubt. Zwar zeigten alle Fraktionen im Bauausschuss Sympathien für das Projekt, einen Präzedenzfall für Schwarzbauten wollte aber die Mehrheit der Stadträte nicht schaffen. Andernfalls, so Baureferent Gerd Merkle (CSU), könne ja jeder anfangen, dort zu bauen, wo er wolle. Mit geordneter Siedlungsentwicklung habe das, abgesehen von der klaren Rechtslage, nichts zu tun.
Am liebsten würden die Siedler natürlich bleiben. Probleme wie den fehlenden Abwasseranschluss könne man ja durch den Bau einer Sickergrube beheben. Momentan nutzen die Bewohner ein mobiles Toilettenhäuschen. Stärker verschmutztes Abwasser bringt jeder Bewohner im Kanister zu Bekannten, die eine Wohnung haben. Dort wird auch die Wäsche gewaschen. Trinkwasser holen sie im Supermarkt. Sie seien auch selbst auf der Suche nach Grundstücken, aber es sei schwierig, etwas Günstiges zu finden, erzählen die Siedler. Sie stellen sich schon darauf ein, gehen zu müssen. Immerhin will die Stadt auf Antrag von SPD und Grünen versuchen, ein Ersatzgrundstück zu finden. Dafür braucht es allerdings noch einen Beschluss im Liegenschaftsausschuss des Stadtrats.
Dabei hatten sich die Bewohner, die dort mit Erlaubnis der in den USA lebenden Grundstückseigentümerin leben, über die Jahre eingerichtet. Sie zahlten die Grundsteuer fürs Grundstück an die Stadt, die städtische Müllabfuhr leert jede Woche die Tonnen, die Telekom legte ein Telefon dorthin, der Postbote stellt Briefe zu. Sogar Post vom Finanzamt fand den Weg in die wilde Siedlung, weil sich die Siedler ganz am Ende der Derchinger Straße selbst eine Hausnummer gaben, die auch bei Google-Maps auftaucht. Offiziell war diese freilich nie. Als ein Bewohner eine Adresse bei der Stadt beantragte, nachdem ein Brief einmal als unzustellbar zurückging, löste das in der Bauverwaltung eine Kettenreaktion aus. An deren Ende stand die Räumungsverfügung.
Die Siedler hoffen nun, dass sie irgendwo unterkommen. Abgesehen davon, dass sie ihre Gemeinschaft erhalten wollen, ist es schwierig, Wohnungen zu finden. Sabrina Winterholler ist aus der Siedlung weggezogen, als ihr heute 16 Monate alter Sohn auf die Welt kam. Mit einem Baby wäre es in der Hütte nichts gewesen. „Ansonsten wäre ich gerne geblieben.“Sie fand schließlich eine Wohnung. „Über eine persönliche Bekanntschaft ergab sich etwas, sonst wäre es schwierig geworden“, sagt sie. Sie besucht ihre ehemaligen Mitbewohner noch regelmäßig. Es sei eine besondere Gemeinschaft. Kinder leben in der wilden Siedlung übrigens keine.
Der Wohnungsmangel spielt bei einem Teil der Bewohner durchaus eine Rolle, ist aber nicht die Hauptsache. Stefan Lang, der von Anfang an dabei war, erzählt, dass er früher oft für etliche Monate aufgrund der Arbeit weg war. Jedes Mal eine neue Wohnung zu suchen, sei schwierig gewesen. Da sei er ins Hüttendorf gezogen. Ein anderer Teil lebte früher in einer WG, die dann aufgelöst werden musste. Eine neue Wohnung fand sich nicht. Vor allem geht es den meisten in der Siedlung aber wohl darum, Freiheit und Gemeinschaft gleichzeitig zu haben. Dennoch sagen sie, dass die Politik gerade keine Antworten auf den Wohnungsmangel habe.
Dass Hüttendörfer – auch wenn sich die Fachwelt momentan Gedanken über „Tiny Houses“, also platzsparende Mikrohäuser macht – nicht die Lösung für alle sind, wissen die Aktivisten selbst. Es gehe aber um die Frage, wie viel Wohnraum jeder für sich für nötig hält. In den Hütten, die teils einfach, teils wohnungsartig ausgebaut sind, wird der vorhandene Platz zwangsläufig gut genutzt. Für unnötigen Konsum ist kein Platz. „Bei meinem Umzug hierher bin ich sehr viele Sachen losgeworden“, erzählt Raphael Hubmann. Diese Beschränkung aufs Wesentliche habe ihm gutgetan. Kühlschränke kann man in der Siedlung im Winter mangels Sonnenstrom nicht betreiben. „Ich kaufe dann einfach nur so viel, wie ich sicher verbrauche“, sagt Prochazka.
Dass sich im persönlichen Umfeld neue Bekannte oder Kollegen erst einmal wundern, wenn die Bewohner erzählen, in einem Hüttendorf zu leben, sind sie gewohnt. Geregelte Arbeit und ein Leben im Bauwagen passten für viele wohl auf den ersten Blick nicht zusammen, auch wenn sich die Vorbehalte meist rasch legten. Man dürfe im Übrigen nicht vergessen, dass drei Viertel der Menschheit auf der Welt mit einem niedrigeren Standard auskommen müssen, als er im Hüttendorf vorherrsche.
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