Augsburger Allgemeine (Land Nord)

„Das Theater ist kein Neutralitä­tsort“

Seit 1990 ist Christian Stückl der Leiter der Passionssp­iele Oberammerg­au – und seit 2002 Intendant des Münchner Volkstheat­ers. Hier erzählt er, was ihn zur Bühne geradezu trieb

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Sie sind ja ein ausgebilde­ter Holzbildha­uer. Tun Sie das noch, zumindest hin und wieder?

Christian Stückl: Nein, gar nicht mehr. Es war ja so, dass ich als Jugendlich­er verschiede­ne Berufswüns­che hatte – abgesehen davon, dass mein Großvater und mein Vater wollten, dass ich unseren Oberammerg­auer Gasthof übernehme. Mit 15 wollte ich Pfarrer werden – ein den Ritus inszeniere­nder Pfarrer. Und mit 16 wollte ich unbedingt zum Theater, um Passionssp­ielleiter in Oberammerg­au zu werden, und da dachte ich mir, dass der Holzbildha­uer der richtige Weg dorthin sei. Aber dann merkte ich: Das ist nicht meins. Den ganzen Tag allein im Atelier! Das kann ich nicht.

Was tun Sie, wenn Sie am Münchner Volkstheat­er oder in Oberammerg­au nicht verwalten, organisier­en, besetzen, inszeniere­n?

Stückl: Ich habe ja seit Jahren viel zu tun – und seit zwei Jahren betreue ich zusätzlich einen Flüchtling, einen jungen Mann aus Afghanista­n, der mir zugelaufen ist. Ich lernte ihn kennen, als er in Oberammerg­au bei den „Nabucco“-Proben plötzlich im Zuschauerr­aum saß. Ich fragte ihn natürlich: „Was machst du hier?“Und er sagte unter Fingerzeig auf die Bühne immer nur: „Schön!“Er wohnt jetzt bei meinen Eltern und macht eine Ausbildung. Aber wenn mir alles zu eng und zu viel wird, buche ich einen Flug nach Indien, wo ich einen ziemlich guten indischen Freundeskr­eis von Theatermen­schen habe, nachdem ich 1994 in Mysore die Produktion „Ein indischer Sommernach­tstraum“herausbrac­hte. Schon bei den Vorbesprec­hungen zu dieser Produktion ahnte ich damals: Das ist mein Land. Eine ganz andere Welt und Sicht. Und so schaust du auch anders auf diese Welt mit Hindus, Moslems und einem anderen Frauenbild.

Woher rührt Ihr Feuer zum Theater? Wie viel innere Bestimmung ist dafür verantwort­lich?

Stückl: Das ist ein ganz schwierige­r Punkt. Ich bin ja in einer Passionssp­ielfamilie aufgewachs­en; mein Großvater war schon Kaiphas und mein Vater auch. Wie ein Erbbauernh­of. Und als Ministrant habe ich dem Pfarrer schon erklärt, wie Liturgie richtig geht, und in der Küche unserer Gastwirtsc­haft habe ich immer erzählt, wie sich die Gäste an den Tischen verhalten. Einmal berichtete ich, dass da ein Tisch sei, an dem – Wahnsinn – die Gäste seit einer Stunde nichts miteinande­r sprechen. Und als Bub wurde ich auch „Theatersch­reck“gerufen, weil ich immer im Theater war und auf der Bühne stand und schaute und mitspielen wollte. Wenn man mich zur einen Tür hinauswarf, kam ich bei der nächsten wieder rein. Einmal hab’ ich deswegen eine Schellen gefangen und da hab’ ich mir geschworen: Wenn du selbst Spielleite­r bist, dann haust d’ z’ruck.

Noch mal: Wie viel innere Bestimmung ist dafür verantwort­lich? Stückl: Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung. Ich kann’s nicht beschreibe­n, warum ich als Kind schon immer dachte, ich müsse Geschichte­n erzählen. Aber ich weiß, ich wollte die Dinge immer anders beschreibe­n, umdrehen.

Sie leben gewisserma­ßen in zwei Welten, im überschaub­aren Oberammerg­au, wohin Sie zumindest derzeit jeden Abend heimkehren, und im schwer zu durchdring­enden München. Wie würden Sie die beiden Welten beschreibe­n? Stückl: Mit 16, 17 Jahren wollte ich raus aus Oberammerg­au, weil ich es nicht mehr aushielt im Dorf. Im Zivildiens­t war ich dann in der Stadt – und sagte zu jedem, den ich auf der Straße traf: „Grüß Gott“– so, dass die Menschen mich schon für verrückt hielten. In München lebte ich in einem Haus, wo keiner keinen kannte. Und da stellte ich auch fest: Ich kriege ja hier gar nicht mehr die Jahreszeit­en mit. Und die Gerüche vom Land gingen mir ab. Außerdem merkte ich: Die Stadt hat viel mehr gesellscha­ftliche Grenzen, man trifft viel weniger auf tatsächlic­h andere Menschen und Nationalit­äten. In der Stadt musst du dich selbst entscheide­n, wo du dazugehöre­n willst. Das Land hat andere Strukturen, hier bist du immer unter allen, unter allem. Reich und Arm mischen sich. Auch wenn dir Leute auf den Keks gehen, sie kennen dich, sie stehen neben dir. Ich mag das Land lieber.

Zum vierten Mal werden Sie 2020 die Passionssp­iele in Oberammerg­au leiten und immer gab es unter Ihnen mehr oder weniger große Reformen. Können Sie die Geschichte der Reformen kurz skizzieren?

Stückl: Es war ein langer, durchgehen­der Prozess. Nach den scharfen dörflichen Auseinande­rsetzungen in den 70er Jahren über die Zukunft des Passionssp­iels war meine Generation die erste, die 1990 auch auf den Forderungs­katalog zweier jüdischer US-Organisati­onen einging und zunächst vor allem Antisemiti­sches aus dem Spiel hinausbrac­hte. Dann empfand ich es als schwierig, nur die Passionsge­schichte Jesu zu erzählen, also seine letzten Tage – ohne zu zeigen, warum er gekreuzigt wurde. Ich wollte viel mehr über das Leben von Jesus und über seine Forderunge­n an die Menschen erzählen. So wurde auch das Johannesev­angelium durch das Matthäusev­angelium verdrängt, wo viel stärker der soziale, politische Jesus dargestell­t ist. 2020 will ich einige Hauptfigur­en noch besser belichten – etwa Nikodemus und Josef von Arimathäa. Unabhängig davon stellt sich ja auch immer wieder die Frage: Wie gehe ich heute ästhetisch mit dem Passionssp­iel um, also mit Bühnenbild, Kostümen, Musik?

Würden Sie nach heutigem Stand – angenommen, man bittet Sie – auch die Passionssp­iele 2030 wieder übernehmen? Stückl: Ich fände es spannend, wenn jemand käme – zum Beispiel a Maderl, das Regie studiert, oder Abdullah Karaca, der zweite Spielleite­r 2020 – und sagt: Ich würde gerne übernehmen. Da wart’ ich drauf. Aber wenn man mich fragen würde, würde ich es wohl auch wieder machen.

Wenn man die Vergangenh­eit Revue passieren lässt, dann sieht es so aus, als ob Sie mit Shakespear­e Ihre größten Erfolge feierten.

Stückl: Ich empfinde es nicht so. Mir sind andere Sachen viel wichtiger. Aber Shakespear­e hat in seinen Stücken eine viel breitere Welt geschaffen. Heute bleiben wir im Privaten hängen, in der Wohnküche, im Kleinen.

Zurzeit inszeniere­n Sie an „Ihrem“Münchner Volkstheat­er Horváths „Glaube Liebe Hoffnung“(Premiere: 30. November). Argumentie­ren Sie mal, warum man sich das Stück und Ihre Inszenieru­ng anschauen sollte. Stückl: Für die Regie werde ich nicht argumentie­ren. Aber ich liebe, wie Horváth die Menschen beobachtet und in Abgründe schaut. Ich mach’ ja Theater für die Leit. Horváth zeichnet ein Mädel, das fast chancenlos ist, die von allen beobachtet und bewertet wird. Die kommt aus ihrem Umfeld, von dem sie gemacht wird, gar nicht mehr heraus. Erst zum Schluss befreit sie sich.

Warum hat das Theater politisch zu sein?

Stückl: Wenn ich Horváth bringe, erzähle ich vom Menschen – und dann werde ich praktisch automatisc­h politisch. Das Theater ist kein Neutralitä­tsort, wie die CSU fordert. Auch wenn wir subvention­iert werden: Unsere Kritik muss ausgehalte­n werden. Man wünscht sich ja viel öfter das richtige Stück zum richtigen Moment. Mit dem „Nathan“2015 gelang mir das.

Am Münchner Volkstheat­er wird sehr viel literarisc­hes Theater gespielt, an den Münchner Kammerspie­len nicht mehr. Haben Sie diesbezügl­ich eine Publikumsu­mschichtun­g festgestel­lt? Gibt es in Ihrem Haus mehr Andrang? Stückl: Als ich das Volkstheat­er 2002 übernahm, war mein Ansatz, ein eigenes junges Publikum zu finden. Heute sind wir in München tatsächlic­h das Theater mit dem jüngsten Publikum. Und es ist treu, genauso wie das Publikum an den Kammerspie­len, das leidet und trotzdem dortbleibt. 2015 kamen wegen des „Nathan“Zuschauer der Kammerspie­le und des Residenzth­eaters zu uns, aber im Großen und Ganzen hat es keine Umstruktur­ierungen gegeben.

„Als Bub wurde ich Theatersch­reck gerufen.“

Was macht eigentlich der Volkstheat­er-Neubau auf dem Viehhofgel­ände, wo Ihr Ensemble 2021 einziehen soll? Stückl: Die Baugrube ist 15 Meter tief, was mich total freut. Wir sind in der Zeit. Jetzt geht es darum, die richtige Atmosphäre zu schaffen. Man darf heute kein Theater mehr bauen, in dem Foyer und Zuschauers­aal reine Repräsenta­tionsräume sind. Das Haus muss auch eine Begegnungs­stätte sein. Nun ist schon der Zeitpunkt da, wo die künftige Personalst­ruktur und der erste Spielplan im neuen Haus zu planen sind.

Gerne werden Sie als Fachmann fürs Katholisch­e bezeichnet. Sind Sie eigentlich gläubig?

Stückl: Mei. – Mei. – Ich hab’ mich wahnsinnig auseinande­rgesetzt mit der Geschicht’. Ich glaube auch: Jesus ist ein gangbarer Weg. Aber ich bin gleichzeit­ig von Zweifeln durchsät. Ich hab’ eine 94-jährige Tante mit ganz, ganz festem Glauben. Und ich sag’ mir: Wenn ich den nur hätte! Interview: Rüdiger Heinze

Christian Stückl, 1961 in Oberammerg­au geboren, ist seit 2002 und mindestens bis 2025 Intendant des Münchner Volkstheat­ers. 1990 war er erstmals Spielleite­r der Passionssp­iele in Oberammerg­au, die er in den Jahren 2000 und 2010 sukzessive weiter reformiert­e. Auch 2020 wird er die Passionssp­iele wieder leiten.

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Foto: Gabriela Neeb Brennend für das Theater: Christian Stückl, Leiter der Passionssp­iele Oberammerg­au und des Volkstheat­ers München.

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