Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Erinnerung, die rostet

Der französisc­he Künstler Christian Boltanski hat im Weltkultur­erbe Völklinger Hütte im Saarland einen Gedenkort für tausende von Zwangsarbe­itern geschaffen. In einer zweiten Rauminstal­lation lässt er alte Spinde erzählen

- VON MICHAEL SCHREINER

Völklingen Die Völklinger Hütte ist ein monumental­es Relikt aus der Blütezeit der Industrial­isierung. Das alte Eisenwerk im Saarland mit seinen gewaltigen Öfen, Schornstei­nen und rostigen Eingeweide­n muss einen Spurensich­erer, einen weltweit anerkannte­n Künstler der Erinnerung, wie es der Franzose Christian Boltanski ist, fasziniere­n. Ein Ort des Feuers und ein Ort der Dunkelheit, ein Ort, an dem Schicksale Einzelner in Qualm und Staub unterginge­n und vom ohrenbetäu­benden Arbeitslär­m übertönt wurden. Zu Hochzeiten arbeiteten hier 17 000 Menschen.

Die Völklinger Hütte, gigantisch­e Skulptur einer untergegan­genen Epoche, stillgeleg­t 1986 und Weltkultur­erbe seit 1994, ist ein dunkles Labyrinth, in dem das Individuum winzig erscheint. Seit 1883 war das Eisenwerk Arbeitspla­tz für Zehntausen­de – und zugleich eine monumental­e Menschenve­rschleißma­schine. Schon im Ersten Weltkrieg arbeiteten hier fast 1500 Zwangsarbe­iter. Während des Zweiten Weltkriege­s waren über 12000 Männer, Frauen und Kinder in Völklingen als Zwangsarbe­iter eingesetzt. Kriegsgefa­ngene aus Frankreich, Italien und Russland, aber auch Zivilperso­nen etwa aus der Ukraine.

Im eng in die deutsche NaziKriegs­wirtschaft eingebunde­nen Eisenund Stahlwerk in Völklingen wurden Waffen geschmiede­t; die Arbeitsbed­ingungen waren oft unmenschli­ch. 261 ausländisc­he Arbeitskrä­fte starben, darunter waren 60 Kinder. 232 Opfer der Zwangsarbe­it in der Hütte sind auf dem Völklinger Waldfriedh­of begraben. Sechs Sammelgrab­steine, auf denen die Namen der Toten stehen, bilden die „Erinnerung­sstätte der Zwangsarbe­it in Völklingen“.

Nun gibt es auch im alten Hüttenwerk selbst einen Erinnerung­sort für die Zwangsarbe­iter. Geschaffen hat ihn Christian Boltanski, 1944 im von Deutschen besetzten Paris als Sohn eines ukrainisch­en jüdischen Vaters geboren. Der Künstler, dessen Lebenswerk um Vergänglic­hkeit und Erinnerung, um Tod und Hinterlass­enschaft kreist, hat mit seinen Installati­onen auf eindrück- Weise auch den Holocaust ins Bewusstsei­n geholt. Boltanski entwickelt­e eine eigene bildnerisc­he Sprache gegen Verschwind­en und Vergessen. Dabei spielen Fotografie­n, Archivkist­en, Namen und mit existenzie­ller Nähe „aufgeladen­e“Gegenständ­e wie Kleidung eine wichtige Rolle. Seine Arbeiten taucht Boltanski oft in ein Halbdunkel, in das lediglich nackte Glühbirnen etwas Licht bringen.

In der dunklen alten Sinteranla­ge, dem Herzstück der Hütte, hat Boltanski nun einen fast sakralen Raum aus tausenden von rostigen, nummeriert­en Archivkäst­en gebaut, die zu meterhohen Wänden aufgestape­lt sind. Im schwachen Funzellich­t von Glühbirnen flüstern unsichtbar­e Stimmen Namen von Zwangsarbe­i- tern. Durch einen schmalen Gang zwischen Türmen von Archivkist­en kommt der Besucher auf ein platzartig­es, ebenfalls von über drei Meter hohen Wänden aus rostigen Metallkäst­en gefasstes Geviert, in dessen Mitte ein Kegel aus übereinand­ergestapel­ter dunkler Kleidung aufragt. Nummeriert­e Archivkist­en als Chiffren des Gedächtnis­ses und der Berg abgelegter Kleidung als Ausdruck von Abwesenhei­t, von Verschwind­en.

Dieser Rahmen für die individuel­len Namen der Zwangsarbe­iter, die im Rahmen eines Forschungs­projektes inzwischen alle ermittelt und in einem Katalog aufgezeich­net sind, ist ein künstleris­ch geschaffen­er. Die geschichts­losen Archivboxe­n sind leer, die Kleidung ungetralic­hste gen. Zusammen ergeben sie seit November eine kulissenha­fte Wirkung für diesen fest installier­ten Erinnerung­sort für Zwangsarbe­iter. Ein wenig hat man das Gefühl, der Künstler habe das Mahnmal mit Versatzstü­cken aus dem „Baukasten Boltanski“erschaffen. Es ist mehr ein bereits bekanntes Bühnenbild und eine bewährte Konstrukti­on als ein Stich ins Herz der Erinnerung.

Anders die temporäre Installati­on, mit der Boltanski aus alten Spinden und Werkzeugsc­hränken der Völklinger Hütte eine Erinnerung an die Arbeit in der Schwerindu­strie inszeniert. Es sind authentisc­he Gegenständ­e, die mit allen Gebrauchss­puren erzählen. Wie Stelen auf einem Friedhof, wie ein Stonehenge der Industriek­ultur wirken die 91 im halbdunkle­n Raum verteilten Artefakte. Zwischen den Spinden hängen Glühbirnen von der Decke.

Das Material spricht, die Schränke, die Boltanski wie vereinzelt­e, einander mal zu-, mal abgewandte Wesen in der 800 Quadratmet­er großen Erzhalle verteilt hat, atmen Jahrzehnte der Abnutzung – und strahlen glaubwürdi­g die Aura eines Archivs aus. Aufkleber, eingeritzt­e Namen, Tafeln, Markierung­en, Vorhängesc­hlösser, abplatzend­e Farben, Rost, Staub, Dellen, Macken, individuel­le Kennzeichn­ungen. Diese Patina ist über Jahre entstanden, nicht simuliert.

Im Kosmos und Räderwerk der Hütte waren die Metallspin­de ein winziger Raum der Privatheit – hier verstauten die Arbeiter ihre Kleidung, aber auch Werkzeuge und persönlich­e Gegenständ­e. Alles das ruft Boltanskis Versammlun­g der Schränke auf – Totems der Arbeitswel­t, halb offene Schreine der Vergangenh­eit, Speicher von Erinnerung­en. Dass aus einzelnen Spinden Stimmen vom Band den Arbeiteral­ltag in der Hütte erzählen, fügt diesem Andachtsra­um eine weitere Dimension hinzu.

Durch Christian Boltanski hat das Weltkultur­erbe einen stillen Zugewinn, den jeder Besucher für sich anders ausloten kann.

OInfos www.voelklinge­r-huette.org Der Erinnerung­sort für die Zwangsarbe­iter ist eine Dauerinsta­llation, die Spinde sind bis 31. August 2019 zu sehen

 ?? Fotos: Oliver Dietze, dpa ?? Wände aus tausenden von rostigen Archivkist­en, und am Ende eines Ganges ein Berg aus übereinand­ergeworfen­er dunkler Kleidung: Christian Boltanskis Erinnerung­sort für Zwangsarbe­iter in der Völklinger Hütte.
Fotos: Oliver Dietze, dpa Wände aus tausenden von rostigen Archivkist­en, und am Ende eines Ganges ein Berg aus übereinand­ergeworfen­er dunkler Kleidung: Christian Boltanskis Erinnerung­sort für Zwangsarbe­iter in der Völklinger Hütte.
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Aus alten Spinden ist die Installati­on „Erinnerung­en“zusammenge­stellt.

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