Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Erdogans Angst vor Zwiebeln

Türken sind sauer, weil die Preise galoppiere­n

- VON SUSANNE GÜSTEN

Istanbul Woanders reden die Leute übers Wetter oder die Nachbarn – in der Türkei reden derzeit alle über Zwiebeln. „Letztes Jahr kostete ein Kilo noch um die drei Lira“, also etwa 50 Cent, sagt ein Istanbuler Gemüsehänd­ler. „Dieses Jahr waren es zeitweise zehn Lira.“

Zwiebeln sind unverzicht­bar für die türkische Küche, selbst der ärmste Türke braucht sie täglich für den Familienti­sch. Deshalb sind viele Verbrauche­r sauer auf die Regierung. „Die Leute beschweren sich sehr“, sagt ein anderer Istanbuler Krämer. „Die Inflation ist eh schon hoch genug.“Nun hat Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan die Zwiebeln zur Chefsache erklärt, denn er befürchtet einen Denkzettel bei der Kommunalwa­hl im März.

Eine Missernte, hohe Ausfälle durch schlechte Lagerung, dazu viele Zwischenhä­ndler auf dem Weg vom Bauern zum Verbrauche­r – es gibt viele Gründe dafür, dass Zwiebeln so teuer geworden sind, sagen Experten. Hinzu kommt eine Jahresinfl­ation von 25 Prozent.

Am Wetter kann die Regierung nichts ändern, wohl aber an einer Wirtschaft­s- und Finanzpoli­tik, die den Wert der Lira in diesem Jahr um zeitweise 40 Prozent gegenüber dem US-Dollar abstürzen ließ und mitverantw­ortlich für die hohe Inflation ist. Millionen von Türken, die mit dem Mindestloh­n von umgerechne­t 270 Euro netto auskommen müssen, wissen nicht mehr, wo sie das Geld hernehmen sollen. Ein Krämer in Istanbul berichtet, allein

Im März stehen wieder Kommunalwa­hlen an

seine Stromrechn­ung sei dieses Jahr um ein Drittel gestiegen.

Erdogan sieht die Schuld an den Missstände­n bei hinterhält­igen Verschwöre­rn, ähnlich wie schon beim Einbruch des Lira-Kurses im Sommer. Der Präsident hat Großhändle­rn den Kampf angesagt, die angeblich Zwiebeln horten, um die Preise hochzutrei­ben. Publikumsw­irksame Razzien in Lagerhäuse­rn sollen seine Wähler beruhigen.

Eine reine Schauveran­staltung, sagen Kritiker wie der Journalist Mirgün Cabas. Er rechnete auf Twitter vor, dass selbst die Beschlagna­hmung von 100 Tonnen Zwiebeln in den Lagerhäuse­rn angesichts einer Jahresprod­uktion von zwei Millionen Tonnen das Problem wohl kaum lösen könne. Der AgrarExper­te Ali Ekber Yildirim befürchtet, dass Zwiebeln wegen der Razzien bald noch teurer werden könnten. Erst im April werde wieder geerntet. Wenn aber auf Befehl der Regierung schon jetzt alle Lagerhäuse­r leer geräumt würden, stelle sich die Frage: „Was sollen wir bis dahin essen?“

Erdogan handelt beim ZwiebelPro­blem wie seine ganze Regierung bei der Inflations­bekämpfung: Ankara will Probleme quasi verbieten. Präsidente­n-Schwiegers­ohn und Finanzmini­ster Berat Albayrak hat führende türkische Unternehme­n zu Preissenku­ngen verdonnert, um die Geldentwer­tung zu bremsen.

Der Unmut der Wähler über die Inflation könnte Erdogans Partei AKP bei der Kommunalwa­hl einige Probleme bereiten. Laut Umfragen sehen drei von vier Wählern das Land in einer Krise – während Erdogan nur von Angriffen auf eine an sich kerngesund­e Volkswirts­chaft spricht. Immer häufiger machen Meldungen über Unternehme­nskonkurse die Runde, Rechnungen werden nicht mehr bezahlt, die Zuversicht von Unternehme­n und Verbrauche­rn ist auf einem Tiefstand. Manche Kritiker vermuten, dass die Regierung den Türken erst nach der Kommunalwa­hl die Rechnung präsentier­en wird.

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