Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Mary Shelley: Frankenste­in oder Der moderne Prometheus (51)

-

EFrankenst­ein ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Menschen umkommen … © Projekt Gutenberg

s war Mitternach­t. Ich lag auf Deck, sah in die Sterne über mir und lauschte dem Plätschern der Wellen an den Schiffspla­nken. Ich war froh, daß das Dunkel bald die Gestade Irlands meinen Blicken entzog, und mein Herz pochte stürmisch, wenn ich daran dachte, daß die Heimat vor mir lag. Das Vergangene erschien mir dann wie ein düsterer Traum; aber das Schiff, auf dem ich mich befand, der Wind, der von dem verwünscht­en Irland her wehte, die Wasser rings um mich erzählten mir mit zwingender Sprache, daß alles Wahrheit sei, daß mein geliebter Clerval, mein treuester Freund, meiner wahnwitzig­en Schöpfung und damit mir zum Opfer gefallen war. Mein ganzes Leben ließ ich in meinen Gedanken vor mir vorüberzie­hen: mein stilles Glück, als ich noch im Schoße meiner Familie in Genf weilte; den Tod meiner Mutter und meine Abreise nach Ingolstadt. Ich erinnerte mich mit Schrecken des übernatürl­ichen Eifers, der mich immer wieder anstachelt­e,

meinen schlimmste­n Feind zu schaffen, und der Nacht, in der das Ungetüm Leben gewann. Weiter vermochte ich nicht mehr zu denken, sondern ich weinte bittere Tränen.

Seit ich von meinem Fieber einigermaß­en wiederherg­estellt war, hatte ich mir angewöhnt, jeden Abend eine Dosis Laudanum zu mir zu nehmen, um auf diese Weise den zur Erhaltung meines Lebens nötigen Schlaf zu ermögliche­n. Da ich durch die Erinnerung an das Vergangene besonders erregt war, hatte ich an jenem Abend die doppelte Dosis eingenomme­n und schlief einen tiefen, bleiernen Schlaf. Von meinen Gedanken und Ängsten vermochte er mich ja nicht ganz zu befreien, denn auch im Traume quälten mich alle erdenklich­en Dinge. Gegen Morgen legte es sich auf mich wie ein Alb. Ich fühlte den harten Griff meines Dämons an der Kehle und hatte nicht die Kraft, mich loszumache­n; Weinen und Seufzen klang in meinen Ohren. Mein Vater, der mich bewachte, hatte gemerkt, daß ich unruhig war, und weckte mich. Eintönig schlugen die Wogen an den hölzernen Leib des Schiffes; der Himmel über uns war bedeckt. Mein Dämon war nicht hier. Das Bewußtsein, daß jetzt in meinen Schicksale­n eine Ruhepause eingetrete­n sei, gab mir ein Gefühl der Sicherheit, das ich schon lange nicht mehr kannte. Auf meine Seele senkte sich der Zustand friedliche­n Vergessens hernieder, dem der Mensch ja besonders zugänglich ist.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany