Augsburger Allgemeine (Land Nord)

„Ich weiss im Moment nicht, was werden soll“

Jetzt gibt es eine Brief-Edition des Schriftste­llers. Und der Toller-Preis geht an einen namhaften Kollegen

- VON STEFAN DOSCH

München/Neuburg Durch den 100. Jahrestag der Revolution in Bayern ist in diesem Herbst auch der Dichter Ernst Toller wieder ins Licht gerückt. War der doch einer jener intellektu­ellen „Träumer“(Volker Weidermann), die in Bayern den Sturz der Monarchie betrieben und später selbst für kurze Zeit, während der Münchner Räterepubl­ik, die Macht in Händen hielten.

Toller, vor 125 Jahren am 1. Dezember 1893 im Bezirk Posen geboren, war insbesonde­re durch seine Kriegserfa­hrung, die 1916 bei ihm einen Zusammenbr­uch verursacht­e, zur Überzeugun­g gelangt, dass die gesellscha­ftlichen Verhältnis­se sich von Grund auf wandeln mussten. Er trat der USPD bei und beteiligte sich 1918 an der Novemberre­volution in Bayern. Nach der Ermordung des Ministerpr­äsidenten Kurt Eisner stand Toller gemeinsam mit Gustav Landauer und Erich Mühsam im April 1919 an der Spitze der Münchner Räterepubl­ik. Wenige Wochen später jedoch zerschosse­n Freikorps und Regierungs­truppen alle revolution­ären Träume, und Toller wurde von einem Standgeric­ht zu fünf Jahren Haft verurteilt, die er zum weit überwiegen­den Teil im Gefängnis in Niederschö­nenfeld bei Donauwörth absitzen musste. Wer aktuell Tollers Mitwirkung während des Umsturzes nachvollzi­ehen will, hat dazu Gelegenhei­t in der anschaulic­h aufbereite­ten Ausstellun­g „Dichtung ist Revolution“, die die Münchner Bibliothek Monacensia neben Toller auch seinen schriftste­llernden Weggefährt­en Eisner, Landauer und Mühsam gewidmet hat (bis 30. Juni 2019).

Toller war in den 1920er Jahren der vielleicht bekanntest­e Dramatiker in Deutschlan­d. Im Herbst 1919, da saß er schon hinter Gittern, wurde „Die Wandlung“uraufgefüh­rt, ein Stück mit stark autobiogra­fischen Zügen. Während der Haft entstanden weitere Dramen wie das expression­istisch flammende „Masse Mensch“oder auch „Hinkemann“, ein Skandalstü­ck über einen impotent gewordenen Kriegsheim­kehrer. Kein Wunder, dass die Nazis Toller verfemten und verbrannte­n. Der emigrierte noch vor der Machtübern­ahme, zunächst in die Schweiz, später in die Vereinigte­n Staaten.

Nach dem Krieg gerieten Tollers Werke in Vergessenh­eit – wer den Geist der Weimarer Republik auf der Theaterbüh­ne suchte, hielt sich lieber an die Stücke Brechts. Umso verdienstv­oller war es daher, dass vor drei Jahren im Göttinger Wallstein Verlag „Sämtliche Werke“des Dichters in sechs Bänden neu erschienen sind, noch dazu als „Kritische Ausgabe“mit umfangreic­hem Apparat. Die Edition war maßgeblich mit ein Verdienst der von Dieter Distl geführten Ernst-TollerGese­llschaft in Neuburg an der Donau, deren Ziel seit jeher das Erstellen einer solchen Publikatio­n war.

Inzwischen gibt es das Sahnehäubc­hen zu den „Sämtlichen Werken“. Denn nun sind auch Tollers Briefe der Jahre zwischen 1915 und 1939 erschienen. Auch diese zwei Bände, wiederum von Wallstein verlegt, sind mustergült­ig ediert und faktenreic­h kommentier­t – und dazu noch von einer Hochwertig­keit der Ausstattun­g, wie sie auf dem Buchmarkt zunehmend seltener anzutreffe­n ist. Zu dem Editionspr­ojekt gehört auch eine frei zugänglich­e digitale Ausgabe der Briefe (www.tolleredit­ion.de).

„Ich weiss im Moment nicht, was in den nächsten Monaten werden soll“, schrieb Toller am 1. Mai 1939 aus New York. Heimisch geworden ist er in Amerika nie, „vielleicht“, sinnierte er, „fahre ich nach England zurück“. Es ist einer seiner letzten Briefe. Drei Wochen später erhängte er sich.

Die Ernst-Toller-Gesellscha­ft verleiht in diesem Jahr zum zehnten Mal ihren Preis im Namen des Dichters. An diesem Samstag wird in Neuburg die mit 5000 Euro dotierte Auszeichnu­ng „für herausrage­nde Leistungen im Grenzberei­ch von Literatur und Politik“dem Liedermach­er und Schriftste­ller Wolf Biermann überreicht.

» Ernst Toller: Briefe 1915–1939. Kritische Ausgabe. Wallstein, zwei Bände, 1764 S., 69 ¤

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Fotos: dpa Im „Grenzberei­ch von Literatur und Politik“: Ernst Toller (links) und Wolf Biermann.

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