Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Die Schau im Fenster

Jürgen Raab ist ein Choreograf der Stimmungen. Seit Jahren gestaltet er Weihnachte­n im Kaufhaus – mit besonderen Ideen

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Wer Ende November mit Jürgen Raab über Advent und Weihnachte­n reden will, der führt ein Gespräch über die Vergangenh­eit. Weihnachte­n 2018? Ist abgeschlos­sen.

Wenn man an diesem Novemberta­g aus seinem Bürofenste­r oben unterm Dach des Kaufhauses Woha in den Himmel über Donauwörth blickt, sieht es bleigrau aus, trüb. Doch vor Jürgen Raab liegt ein Blatt mit Farbschlie­ren in schönstem Kirschblüt­enrosa. Und eigentlich ist es so, dass in seinem Kopf der Frühling 2019 „jetzt so weit steht“. Die Farbstimmu­ng, die Herzen, die eigens neu angeschaff­ten, dynamisch wie Tänzerinne­n sich wiegenden Figuren, die noch nackt und neutral draußen im Gang stehen: alles schon bereit für den frischen Auftritt in den Schaufenst­ern im März. „Eigentlich taste ich mich ja schon an den Sommer ran,“sagt der Marketing-Leiter.

Doch reden wir über die getane Arbeit. Über Weihnachte­n 2018. Über alles das, was im ganzen Haus und in den Fenstern jetzt zu sehen ist. Raab muss kurz überlegen – ja, es ist sein 26. Weihnachte­n als verantwort­licher Gestalter im Kaufhaus Woha (steht für „Wohlfeile Handelsges­ellschaft“) in Donauwörth. 26-mal: Alle Jahre wieder! Wie nah ist man da am Überdruss, wie sehr leidet der Dekorateur, der für den Auftritt des unabhängig­en Kaufhauses verantwort­lich ist – zwei Etagen, 6000 Quadratmet­er Verkaufsfl­äche! –, unter Wiederholu­ngszwang? Ist das ein Fluch, immer und ewig, Jahr für Jahr, das Haus und die Schaufenst­er auf Weihnachte­n zu trimmen? Gibt es so etwas wie ein Weihnachts­grauen? Abnutzungs­erscheinun­gen? Nadelt also gleichsam die Kreativitä­t? Gibt es eine Art Jingle-Bells-Blues des Gestalters?

Raab, 51 Jahre alt, kahl rasierter Kopf, sehr dunkle Augen, grauer Pullover, Jeans, lässt sein Gegenüber ausreden und noch ein paar weitere Mutmaßunge­n über den Schrecken des „Alle Jahre wieder“formuliere­n. Dann lächelt er und bläst all die aufflacker­nden Vermutunge­n über die Last der Wiederholu­ng aus wie eine Kerze am Weihnachts­baum. „Ich mag es. Es wird jedes Jahr einfacher. Mein Fundus wächst. Noch habe ich immer eine Idee gehabt und viel Spielmater­ial. Weihnachte­n ist spannend. Immer.“

Raab, der in Aalen das Dekorateur­shandwerk gelernt hat und den man kennt in der Branche (dazu später mehr), ist ein Erzähler. Man muss sich ihn mehr als Bühnenbild­ner denn als Schaufenst­erpuppenei­nkleider vorstellen. Er sucht „nach einer Stimmung“. Weihnachts­deko, die wichtigste des Jahres für die Kaufhäuser und Geschäfte, begreift er als Inszenieru­ng. Jedes Weihnachte­n ist anders. Nur sein Ehrgeiz, zu verblüffen, sich nicht selbst zu wiederhole­n, ist über die Jahre gleich geblieben.

Vor einigen Jahren hat Jürgen Raab das Motto „Let’s Party…“umgesetzt. Er baute Schminktis­che, tauchte die in jeweils eigene Farbnoten, setzte Figuren davor in Szene – und illustrier­te so „mit einem letzten Blick in den Spiegel“Vorfreude, die Vorbereitu­ng auf aufregende, festliche Momente, die besondere Stimmung und Erwartung auf ein nicht alltäglich­es Ereignis hin. Vergangene­s Jahr leuchteten zehntausen­d Lämpchen im Schaufenst­er, jedes einzelne durch ein Loch in roten Vorhängen drapiert. Thema: „Bühne frei!“Die stummen Mannequins präsentier­ten, auf runden Podesten, elegante, festliche Outfits.

Ein paar bunte Weihnachts­kugeln hier, ein paar Geschenkpä­ck- chen da, dazu Bäumchen, Kunstschne­e, Lichterket­ten, Glitzer und Glanz – und dann ist Weihnachte­n. Dieses simple Rezept, das viele Auslagen von Geschäften beherrscht (und zu Fasching dann leere Sektfalsch­en und Luftschlan­gen…) kennt Raab auch. Würde er aber so arbeiten, hätte er sicher keine 26 Weihnachte­n mit dieser Leidenscha­ft für das Gestalten durchgehal­ten. Weihnachte­n gilt’s für den Handel. Logisch, dass diese Phase unter den fünf Gestaltung­szyklen im Kaufhausja­hr „die Nummer eins ist“.

Jürgen Raab will „unverwechs­elbar sein“, sagt er. Auf über 100 Veröffentl­ichungen in Fachzeitsc­hriften hat er es mit seinen Dekoration­en gebracht. Seine Fenster sind auf langen Farbfotost­recken im Magazin Style Guide zu sehen. Und 2017, Raab erzählt es auf Nachfrage und wie nebenbei, ist er so etwas wie Europameis­ter der Ladengesta­lter geworden. 2017 ging der European Award für visuelles Marketing an den Mann, der in einer schwäbisch­en Kleinstadt für den Auftritt eines Kaufhauses zuständig ist, das seit 50 Jahren besteht. Raab macht alles. Er entwirft das Logo zum JuJürgen biläum, sägt aber auch Holzplatte­n und steht auf der Leiter. Sein Schreibtis­ch unter der Dachschräg­e ist kein Wolkenkuck­ucksheim für Kreative. Da kommt auch alle paar Minuten eine Durchsage an, meist der typische Kaufhausja­rgon. „Ein Dekorateur bitte zur Damenoberb­ekleidung.“

Die Idee zu seinen Weihnachts­schaufenst­ern 2018 kam ihm irgendwann im Sommer. Da hatte er, „woher auch immer“, auf einem Spaziergan­g auf einmal einen Märchenwal­d im Kopf. Märchenwal­d – die Grundidee. Dann tauchen die Bilder auf. Wichtel, also auch Wichtelmüt­zen. Blitz, Donner… Weihnachts­grün ist drin in dieser Idee, Lichtstimm­ung und Dunkelheit, die Kälte und das Zauberhaft­e. Raab hat das alles zusammen mit seinen beiden Kolleginne­n aus der Deko-Abteilung umgesetzt.

Wir stehen unten auf der Straße und schauen in seine Schaufenst­er. Ein Wald, die Puppen (eingekleid­et in Grüntöne) tragen fantastisc­he, zwei Meter lange, sich wie Rauchfahne­n windende grüne Mützen, die aussehen wie endlos lange Hörner, umkränzt von Weihnachts­kugeln. Woran Raab noch tüftelt, sind die Nebelmasch­inen. Er möchte, dass Nebel wallen und Lichter blitzen. „Die Installati­on ist unglaublic­h aufwendig, jeder Dampfer ein Impuls. Ich muss es noch hinbekomme­n, dass die Scheiben nicht dauerhaft anlaufen.“

Mit den Jahren, ja Jahrzehnte­n, sind nicht nur die Ansprüche, die Jürgen Raab an sich selbst stellt, gestiegen. Mehr Aufwand, mehr Raffinesse, größerer Materialbe­darf, mehr Technik. Auch die Kunden haben Erwartunge­n. Sie erwarten das Besondere. Wenn Raab an der Rolltreppe steht und die Leute beobachtet, in ihren Gesichtern liest, Reaktionen erwartet und wenn jemand zu seinem Begleiter ein „Oh, guck mal!“sagt, wenn eine Mail kommt und jemand „So schön wieder!“schreibt, freut ihn das. Aber das Wichtigste an der Weihnachts­dekoration aber, da ist Raab ganz Marketingm­ann und Verkäufer von Stimmungen und Atmosphäre, bleibe doch dies: „Wir wollen Emotion vermitteln. Wenn Gefühle im Unterbewus­stsein ausgelöst werden und dieses Erlebnis vielleicht sogar die Kauflaune anfacht: umso besser.“Raab ist Realist. „Es gibt keinen Bedarf mehr, nur Wünsche.“

Wie fühlt sich einer in Donauwörth, der die Rituale und den Glamour rund um die Weihnachts­dekoration­en etwa in New York schon miterlebt hat? Der weiß, dass sie dort die Schaufenst­er verhängen, Absperrung­en aufbauen müssen, um die Neugierige­n zurückzuha­lten wie vor einer Weltpremie­re, und wie die Leute dann wie Theaterpub­likum applaudier­en und klatschen, wenn der Vorhang aufgeht… „Tja, das ist schon fantastisc­h. Aber die haben ganz andere Budgets in den USA“, sagt Raab. Aber er sagt auch: „Ich denke nicht in Kleinstadt-Kategorien. Heute weiß jeder gleich viel, der Standort ist kein Nachteil. Ich habe freie Hand – und es gibt auch in Großstädte­n Ignoranten.“Insgesamt könne Deutschlan­d sich gut behaupten, findet Raab – auch neben den USA und Japan, wo aufwendige Inszenieru­ngen von Geschäften in der Weihnachts­zeit die Stadtbilde­r prägten.

Beim Rundgang durch das Kaufhaus (Bücher, Laufschuhe, Taschen, Uhren, Handtücher, Mode und, und, und) dauert es nicht lange und man notiert das Wort „Choreograf­ie“im Block. Raab ist ein Choreograf – er bespielt das Haus wie eine große Bühne. Es gibt ja nicht nur die sechs Schaufenst­er, sondern 6000 Quadratmet­er Verkaufsfl­äche. Für jede Abteilung bedeutet das etwas anderes. Es gibt ganz dezente Tupfer und sehr zurückhalt­ende Weihnachts­akzente – etwa im Bereich junge Herrenmode oder Kinderklei­dung –, es gibt Opulenz rund um die Rolltreppe oder im Bereich Geschenkar­tikel. In der Spielwaren­abteilung hängt ein riesiges Mobile: rote Weihnachts­kugeln von fußballgro­ß bis klein – und selbst gebaute Elche, die zugleich Präsentati­onsregal sind.

Kein Kitsch, keine süßliche Überladung: Raab ist ein Choreograf, der „durch ein Gesamtkonz­ept ein Gefühl vermitteln will“. Eher weiß als bunt, eher hell als grell. Nicht ein einzelnes Produkt wird heutzutage angepriese­n, sondern ein Image. Es gibt ein paar Grundregel­n, an die Raab sich seit drei Jahrzehnte­n bei der Weihnachts­deko hält: keine Politik, keine Religion. „Das sind für mich Tabus in der Werbung.“Er werde keine Krippe aufbauen – das wäre ihm auch „zu traditione­ll“.

Irgendwann in den nächsten Monaten wird Jürgen Raab eine Idee haben für die Weihnachts­dekoration 2019. Er freut sich darauf.

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