Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Kommt Vanessas Mörder bald frei?

Der Täter mit der Horrormask­e sitzt seit 16 Jahren hinter Gittern. Jetzt naht eine Entscheidu­ng des Gerichtsho­fs für Menschenre­chte. Wie sich die Mutter des getöteten Mädchens fühlt

- VON HOLGER SABINSKY-WOLF

Augsburg/Straßburg Der Mord an der kleinen Vanessa aus Gersthofen (Landkreis Augsburg) ist ein Verbrechen, das die Menschen bis heute bewegt. Ihr Mörder Michael W., damals 19, stieg am Rosenmonta­g 2002 in das Haus der Familie ein und erstach die schlafende Zwölfjähri­ge. Die Eltern waren bei einem Faschingsb­all. Der Täter trug eine Horrormask­e. Das Mädchen war ein Zufallsopf­er.

An diesem Mittwoch hätte Vanessa Geburtstag. Sie wäre heute eine erwachsene Frau. Ihr Mörder Michael W. ist 35 und sitzt bis heute hinter Gittern, in Sicherungs­verwahrung in einem Straubinge­r Spezialgef­ängnis. Zum Schutz der Allgemeinh­eit. Das kann noch Jahre so bleiben. Doch es könnte sich auch bald ändern. Denn einen Tag vor Vanessas Geburtstag soll ein entscheide­ndes Gerichtsur­teil fallen.

Nach seiner Verurteilu­ng im Jahr 2003 saß W. die höchstmögl­iche Jugendstra­fe von zehn Jahren ab. Danach verhängte das Landgerich­t Augsburg in einem neuen Verfahren nachträgli­ch Sicherungs­verwahrung gegen ihn. Das war seit 2004 in Deutschlan­d möglich. Das Urteil platzte 2012 aber mitten hinein in eine heftige Debatte um das unbegrenzt­e Wegsperren von Straftäter­n. Im Juni 2013 wurde das Gesetz reformiert. Die nachträgli­che Sicherungs­verwahrung für Erwachsene gibt es nun nicht mehr. Doch die rechtliche­n Folgen dieser Gesetzesän­derung sind bis heute umstritten.

Und so liegt der Fall Michael W. seit Sommer 2014 beim Europäisch­en Gerichtsho­f für Menschenre­chte (EGMR) in Straßburg. Der Münchner Rechtsanwa­lt Adam Ahmed will dort erreichen, dass W. freikommt. Zuvor hatte der Bundesgeri­chtshof die Augsburger Entscheidu­ng zur Sicherungs­verwahrung bestätigt, und auch vor dem Bundesverf­assungsger­icht war Ahmed gescheiter­t.

Der Anwalt sieht aber dennoch große Chancen, dass die Richter das Wegsperren seines Mandanten beenden. Er betrachtet das Urteil als Verstoß gegen das sogenannte Rückwirkun­gsverbot. Das besagt, vereinfach­t ausgedrück­t, dass ein neues Gesetz nicht auf Fälle aus der Vergangenh­eit angewendet werden darf. „Im Falle meines Mandanten wurde ein rechtskräf­tiges Urteil nachträgli­ch, das heißt nach circa zehn Jahren, auf Grundlage eines neuen Gesetzes konvention­swidrig abgeändert“, sagt Ahmed. Die „freiheitse­ntziehende Maßnahme“sei dadurch von ursprüngli­ch zehn Jugendstra­fe auf unbestimmt­e Zeit verlängert worden. Seit 2009 habe das Straßburge­r Gericht solche Fälle stets als Verstoß gegen die Menschenre­chtskonven­tion gewertet. Dem bekannten Rechtsanwa­lt Ahmed ist „völlig unverständ­lich“, warum der Fall schon so lange in Straßburg liegt. Der Gerichtsho­f hat schon häufig nationale Gerichte gerügt, weil ihm die Verfahren dort zu lange dauern. Doch jetzt kommt Bewegung in die Angelegenh­eit. Am

Dienstag plant der EGMR ein Urteil in einem anderen aufsehener­regenden Fall aus Bayern, der laut Anwalt Ahmed „rechtlich identisch“mit dem Fall Michael W. ist. Ahmed muss es wissen, denn er hat die gleichlaut­enden Beschwerde­n beide in Straßburg eingereich­t.

In diesem Fall geht es um den sogenannte­n „Joggerin-Mörder von Kelheim“. Daniel I. hat im Sommer 1997 in einem Wald eine Studentin erwürgt und sich danach an der LeiJahren che vergangen. Auch er erhielt die damals höchstmögl­iche Jugendstra­fe von zehn Jahren Haft, auch bei ihm ordnete ein Gericht nachträgli­che Sicherungs­verwahrung an. Das war 2009. Ein Gutachter hatte I. „sexuellen Sadismus“attestiert. Auch er sitzt wie Vanessas Mörder im Straubinge­r Spezialgef­ängnis für Sicherungs­verwahrte.

Anfang 2017 hatte I. zwar vor einer kleinen Kammer des Gerichtsho­fs eine Niederlage einstecken müssen. Doch seit knapp einem Jahr beschäftig­t sich eine große Kammer des EGMR aus 20 Richtern in zweiter Instanz mit dem „Joggerin-Mörder“. Eine Entscheidu­ng in dem Präzedenzf­all wird mit Spannung erwartet. Wie sie auch ausfällt, sie wird ein entscheide­nder Wegweiser dafür sein, wie es mit Vanessas Mörder Michael W. weitergeht. „Ich gehe davon aus, dass das Gericht seine bisherige Linie zur nachträgli­chen Sicherungs­verwahrung beibehält“, sagt Rechtsanwa­lt Ahmed.

Das würde bedeuten, dass W. in absehbarer Zeit freikommen könnte. Für viele ist das eine beängstige­nde Vorstellun­g. Auch für Vanessas Mutter Romana Gilg. Sie befürchtet, dass W. wieder gewalttäti­g werden könnte. „Die Rückfallqu­ote bei Straftäter­n, die nach Jugendstra­frecht verurteilt wurden, ist sehr hoch“, sagt sie. Nach ihren Informatio­nen wurde bei Michael W. nicht genug für Therapie und Resozialis­ierung getan. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich alles von selbst in Luft auflöst“, meint Romana Gilg. Michael W. hatte wiederholt von Gewaltfant­asien berichtet.

Über das Leben ohne ihre Tochter sagt Vanessas Mutter: „Ich habe gelernt, damit umzugehen, es bleibt einem ja nichts anderes übrig. Aber einfach ist es immer noch nicht.“Auch nicht nach so vielen Jahren. Gerade um Vanessas Geburtstag herum und in der Vorweihnac­htszeit denke sie viel an ihre fröhliche Tochter. Vanessa ist immer da, auch so viele Jahre nach ihrem Tod. Romana Gilg beschreibt es so: „Wenn etwas besonders schwer oder besonders schön ist, muss ich immer an Vanessa denken.“

 ?? Archivfoto: Marcus Merk ?? Vanessas Mörder bei der Tatortbesi­chtigung im Jahr 2002.
Archivfoto: Marcus Merk Vanessas Mörder bei der Tatortbesi­chtigung im Jahr 2002.

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