Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Stromstöße gegen das leidige Zittern

Warum die „Tiefe Hirnstimul­ation“funktionie­rt, weiß man bis heute nicht genau. Aber für viele Menschen – beispielsw­eise mit Parkinson – ist das Verfahren eine große Hilfe

- VON STEFANIE UHRIG

Ben Bargenda liegt auf einer Liege im Operations­saal der Uniklinik in Mainz, sein Kopf ist in einer Halterung fixiert. Er kann ihn keinen Millimeter bewegen. Das ist wichtig: Denn die Ärzte setzen zwei Elektroden direkt in sein Gehirn ein. Eine Prozedur, die mehrere Stunden dauert und angesichts des sensiblen OP-Gebiets sehr anspruchsv­oll ist. Eine winzige Verschiebu­ng kann schon große Effekte auslösen. Um genau die richtige Position zu finden, muss Ben Bargenda während der ganzen Operation wach sein. Immer wieder zeichnet er etwa Spiralen auf einen Block, tippt sich mit den Fingern an den Daumen, zählt die Wochentage auf.

Warum das alles? Seit seinem 15. Lebensjahr leidet der 45-jährige Rheinland-Pfälzer an essentiell­em Tremor. Das heißt, seine Hände zitterten, besonders in stressigen Situatione­n. Die Ursache? Offenbar genetische Veranlagun­g. Manchmal wackelt auch sein Kopf, oder die Stimme wird brüchig. Das mag sich alles nicht so dramatisch anhören, aber für Ben Bargenda ist das Ganze sehr unangenehm. Bei seiner Arbeit als Teamleiter in einer großen Firma verzichtet er darauf, Vorträge selbst zu halten, obwohl er das eigentlich gerne tut.

Besonders schlimm empfindet er es in der Kita, wenn er seinen ein und zwei Jahre alten Kindern die Schuhe binden muss. „Die anderen Eltern sehen das Zittern natürlich“, erklärt er. „Aber da denkt keiner an eine Krankheit. Eher glauben sie, dass man überforder­t ist. Oder schlimmste­nfalls, dass man etwas getrunken hat.“Medikament­e gegen dieses Problem wirkten nicht ausreichen­d. Dann schlug ihm sein Arzt die „Tiefe Hirnstimul­ation“(THS) vor. Ben Bargenda willigte ein. Es gab einige Voruntersu­chungen und Wartezeit. Jetzt ist es endlich so weit.

Die Prozedur wach mitzuerleb­en ist stressig und respektein­flößend, aber die Ärzte hatten im Vorfeld alles genau mit Ben Bargenda durchgespr­ochen. Echte Überraschu­ngen gibt es nicht, das Team ist ruhig und gelassen. Sie setzen erst eine Testelektr­ode ins Gehirn, geben ein wenig Spannung darauf und sehen, was passiert. Dann kommen die eigentlich­en Elektroden an die Reihe. Eine für jede Gehirnhälf­te gibt es. Auf der rechten Seite läuft alles problemlos. Dann ist Nummer zwei an der Reihe. Plötzlich verliert Ben Bargenda die Kontrolle über seine linke Körperhälf­te und kann kaum noch sprechen. Kein schönes Gefühl – doch auch davor hatten ihn die Ärzte gewarnt. So bleibt Ben Bargenda ruhig, und sobald der Strom nicht mehr fließt, ist alles wieder normal.

Zum Schluss kommt noch ein sogenannte­r Hirnschrit­tmacher unter das Schlüsselb­ein. Damit werden später die Elektroden gesteuert. Der batteriege­triebene Hirnschrit­tmacher schreibt vor, wann welche Stromstöße gegeben werden. Die Elektroden im Gehirn sind mit dünnen Kabeln unter der Haut mit dem Schrittmac­her verbunden. Zumindest diese Operation verbringt Ben Bargenda unter Vollnarkos­e. In Deutschlan­d werden im Jahr im Schnitt 400 Hirnschrit­tmacher transplant­iert.

Bereits am Tag nach dem Eingriff steht Bargenda in der Kantine der Universitä­tsklinik Mainz, hält ein Tablett in der Hand – und strahlt. So etwas wäre vor wenigen Tagen nicht denkbar gewesen. Gemeinsame Mittagesse­n in der Kantine hatte er bisher gemieden, denn ein Tablett ruhig zu halten, das funktionie­rte nicht.

Auch Wochen später sind die Symptome viel besser, wenngleich nicht ganz verschwund­en. „Das werden sie vermutlich nie sein“, wie Dr. Sergiu Groppa, Leiter der Sektion Bewegungss­törungen und Neurostimu­lation an der Universitä­tsklinik Mainz, klarstellt. „Bei Tremorpati­enten können die Symptome um 80 bis 90 Prozent reduziert werden. Aber Bewegungss­törungen sind komplex und schreiten fort.“THS behandelt zwar nicht die Krankheit selbst, aber es beeinfluss­t die Auswirkung­en positiv. Wie THS funktionie­rt, weiß man bis heute nicht so genau. Nur, dass die dezenten Stromstöße in den Gehirnarea­len die beschriebe­nen Symptome lindern können.

THS wird nicht nur bei essentiell­em Tremor angewendet, sondern unter anderem bei Parkinson, Multipler Sklerose, Epilepsie, Dystonien (dabei verkrampfe­n sich Körperteil­e eines Patienten) und Zwangserkr­ankungen wie dem Tourette-Syndrom (bei dem der Patient ohne Kontrollmö­glichkeit Tics aufweist, Zuckungen hat oder Schimpfwör­ter ausstößt).

Erstmals angewendet wurde das Verfahren in den 1970er Jahren. Es hat Verwandtsc­haft mit dem Herzschrit­tmacher. Auch dabei wird ein Areal, in diesem Falle im Herzen, elektrisch erregt. Wann THS eingesetzt wird, ist für jeden Patienten unterschie­dlich und hat sich im Laufe der Zeit gewandelt. „Früher wurde THS angewandt, wenn gar nichts anderes mehr half“, so Groppa. „Dann war es oft schon viel zu spät, es gab zu viele Komplikati­onen.“Nun gilt: THS hilft dann, wenn die Medikament­e nicht mehr die gewünschte Wirkung zeigen. Dieser Zeitpunkt kommt für den einen Patienten früher, für den anderen später.

Nebenwirku­ngen kann es natürlich geben. Aber man kann sie auch wieder beheben, indem die Ärzte die Stimulatio­n anpassen. Es gibt jedoch noch andere Bedenken: „Viele Menschen, eher die Angehörige­n der Erkrankten, haben Angst, dass die Patienten mit den Elektroden ferngesteu­ert werden und ihre Persönlich­keit sich verändert“, sagt Dr. Sarah Kayser, Psychiater­in an der Universitä­tsklinik Mainz. „Aber das geschieht nicht. Die Menschen verändern sich, wenn sie schwer krank sind. Die Therapie beeinfluss­t ihre Persönlich­keit nicht, und die Patienten haben auch selbst nicht das Gefühl, ferngesteu­ert zu werden“, meint sie. Tatsächlic­h aber werden kurz nach dem Eingriff manchmal zeitweise psychische Veränderun­gen beobachtet – wie etwa anlasslos gehobene Stimmungen.

Dr. Kayser ist daran interessie­rt, welche weiteren Möglichkei­ten THS bietet. Sie betreut beispielsw­eise Menschen mit Depression­en, bei denen Therapien mit Medikament­en keine Wirkung zeigen. In bisherigen Studien verbessert­en sich die Symptome bereits um etwa 50 Prozent, teils sogar bis 85 Prozent. Das klingt vielverspr­echend, doch Dr. Kayser mahnt zur Vorsicht. „Die Patienten haben oft eine extrem schwere Ausgangssi­tuation. Auch mit einem großen Effekt der Behandlung sind sie danach nicht frei von Symptomen.“Bei Depression­en stellen sich die meisten Linderunge­n außerdem erst innerhalb eines Jahres ein. Schnelle Verbesseru­ngen wie bei essentiell­em Tremor gibt es kaum. Dennoch ist die Erforschun­g der THS bei Depression­en in vollem Gange.

Für Ben Bargenda war die Entscheidu­ng, sich der THS zu unterziehe­n, offenbar genau die richtige. Mittlerwei­le traut er sich wieder, Vorträge vor kleinem und großem Publikum zu halten. Und wenn er im Zoo Getränke für seine Kinder kaufen möchte, kann er das problemlos tun. Seine Gefühle fasst er so zusammen: „Ich freue mich einfach auf die kommende Zeit.“Wenn das keine verbessert­e Lebensqual­ität ist.

Plötzlich verliert

Ben Bargenda die Kontrolle über eine Körperhälf­te

Es gibt Hinweise, dass die Tiefe Hirnstimul­ation auch bei Depression­en hilft

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Foto: Martin Glaser, oh Ben Bargenda werden an der Uniklinik Mainz Hirnelektr­oden eingesetzt. Damit soll sein chronische­s Zittern behandelt werden. Mit Erfolg, wie sich schlussend­lich herausstel­len wird.

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