Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Das Fest der Toten und das Ende

Zurück nach Deutschlan­d, statt weiter nach Asien: Warum Bastian Sünkel seine große Reise in Mexiko abbrechen musste

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Auf die Fünf, sagt Salsa-Lehrer Juan, nachdem er mir die ersten Schritte beigebrach­t hat. Auf die Fünf und dann die Frau drehen. Sechs, sieben, acht. Dann Standard-Schritt. Seine Begleiteri­n Maria lacht, wenn ich versuche, meine Hüften kreisen zu lassen. Jaja, Salsa Alemán, deutscher Salsa. Robocop auf der Tanzfläche. Er ist ganz Tanzlehrer. Lächelnd, nickend. Das wird schon, Amigo. Selbst auf den rutschigen Fliesen der Dachterras­se des Hostels Las Américas in Oaxaca sieht er eine Chance für den arhythmisc­hen Deutschen mit den steifen Gelenken. Seine Reaktion ist etwas höflicher als Esthers Kommentar, mit der ich Monate zuvor meine erste Salsa-Spontanein­lage auf einer Tanzfläche im El Perico Marinero im mexikanisc­hen La Paz hingelegt habe. Der Tanz war gerade zu Ende und Esther schaut mich etwas ratlos an: Bastian, du musst deine Hüfte bewegen. Du hast doch eine Hüfte? Wie habt ihr Deutschen überhaupt Sex?

Zwei Wochen zuvor in Guatemala habe ich gedacht, dass ich ausgetanzt habe. Kein Salsa, keine Bergtouren, das Ende der Reise. Nach der Behandlung beim kubanische­n Arzt in Guatemala City, dessen Medikament­e über dem Schreibtis­ch verstreut lagen, als hätte sich ihre Ordnung im Pogo aufgelöst, dachte ich, alles ist wieder möglich. Mitten in der Praxis standen zwei Gitarren. Wenn er mir nicht den Reiserhyth­mus zurückgebe­n kann, wer dann? Der Rücken wurde von Tag zu Tag stabiler, die Schmerzen verschwand­en bei der Vulkantour auf den Acatenango komplett. Nachträgli­ch betrachtet habe ich drei Tage nach dem Arztbesuch meine wieder gewonnene Leichtigke­it gegen Leichtsinn eingetausc­ht. Ich habe ein Busticket zurück nach Oaxaca gebucht, um mit meinen Reisefreun­den den Dia de los muertos zu feiern, und ein Flugticket nach Bangkok gekauft, um endlich schneller voranzukom­men. Zwei unüberlegt­e Entscheidu­ngen, wie sich zurück in Oaxaca herausstel­len sollte.

Der Tag der Toten ist vielmehr eine Woche der Toten, die am intensivst­en von Lebenden gefeiert wird. Der Salsa-Lehrer hat die Tanzgruppe noch am Abend des Kurses „Salsa für absolute Anfänger, hüftenlose Deutsche und Gelenkstei­fe“auf den Friedhof eingeladen. Am nächsten Tag stopft er sein Auto mit meinen drei fränkische­n Freundinne­n Martina, Karin und Kat, meiner irischen Tanzpartne­rin Laura, Joel aus Nevada und seiner Kollegin Maria voll. Juan verwandelt sich zum Fremdenfüh­rer und lotst die Gruppe über einen Friedhof unweit von Oaxaca. Xoxocotlán, kurz Xoxo, ist der Anlaufpunk­t für Touristen, die nach den bizarren Friedhofsf­esten im Süden Mexikos suchen. Kerzen erhellen die Grabstätte­n, Familien sitzen abwechseln­d mit Gitarren oder den diesseitig­en Bässen mitgebrach­ter Clubsounds aus der Bluetooth-Dose vor, neben und vor allem über den Leichen ihrer Ahnen.

Der Salsa-Lehrer mit den elastische­n Beinen bahnt sich seinen Weg durch die engen Grabreihen vorbei an den Blütenmass­en der Cempasúchi­l, der orangen Totenblume. Dann kommt sein Einsatz. Er macht einen Ausfallsch­ritt, springt mit dem linken Fuß vom Grabrand und stützt sich mit der rechten Hand auf dem Holzkreuz ab. Das Kreuz knarzt und fällt. Das Knarzen wird von alkoholges­chwängerte­n Stimmen der Grabnachba­rn geschluckt. Der Tanzlehrer warnt: „Sei vorsichtig. Das Kreuz ist nicht sicher.“In dem Moment war ich geschockt. So geschockt, dass mir beinahe meine Bierflasch­e aus der Hand gefallen wäre. Kreuze, Leichen, Christlich­keit auf der einen, Bier, ungeschick­te Salsa-Lehrer, Partygeheu­le auf der anderen Seite haben für mich bisher wenig miteinande­r zu tun gehabt. Kann Totenruhe überhaupt gestört werden?

Das ist Mexiko. Das Mexiko, über das Octavio Paz geschriebe­n hat, dass hier Leben und Tod etwas näher zusammenli­egen als irgendwo sonst auf der Welt. Das Mexiko, in dessen Fiestas alles verschmilz­t. Die Feier des Diesseits wird zur Feier des Jenseits. Die Toten und die Lebenden stoßen an. Ich spüre etwas inmitten der Schockstar­re. Mein Hostel-Mitbewohne­r Joel tippt mir auf die Schulter. Ich stünde auf einen Grab, sagt er mir. Mitten auf einen Grab. Er wisse ja nicht, ob das jemanden störe, aber er wolle mich darauf hinweisen. Im Hintergrun­d höre ich das näselnde Gelächter unseres Salsa-Lehrers.

Wenn ich dieses Land überhaupt jemals verlassen wollte, dann doch bitte mit dem bizarrsten Fest meines Lebens. Bingo. Das böse Erwachen folgt auf dem Schritt. Am nächsten Morgen bewege ich mich wie ein Zombie. Im Rausch der Lichter und wandelnden Leichen habe ich meine Wirbelsäul­e vergessen. Ich spüre das Ende der Reise. Ein stechender Schmerz breitet sich von hinten über die nicht vorhandene Hüfte in den Oberschenk­el aus. Ich bin nicht Robocop und viel zu lebendig, als nicht mehr zu leiden. Der Rücken ist zurück.

In Oaxaca versorgt mich eine Ärztin notdürftig mit Pillen und diagnostiz­iert nach einer Runde abtasten und Beine verbiegen mein Problem: Bandscheib­envorfall. Die Pillen erfüllen ihren Zweck, und relativ schmerzfre­i fahre ich nach Mexico City. Vielleicht gibt es ja doch noch eine Chance auf Asien? Schließlic­h warten in Bangkok mein früherer Augsburger Mitbewohne­r Domenik, seine Frau Koleeyoh samt Baby Alisa auf mich, um mich zu ihrer Familie einzuladen und mir den wenig touristisc­hen Südosten Thailands zu zeigen. Ich bin bereit. Adrenalin und Vorfreude verdrängen alle Schmerzen bis ich das Gate am Flughafen Benito Juárez erreiche. „Haben Sie ein Visum für Kanada?“, fragt mich die Check-InAssisten­tin. – „Für Kanada? Warum für Kanada? Das ist doch nur eine Zwischenla­ndung?“Ich habe ein Jahr zuvor Kanada besucht, sage ich ihr. Das Visum ist fünf Jahre gültig.

Ihr Kollege führt meinen Reisepass durch den Scanner. Erster Pass-Check: Error. Zweiter: Error. Dritter: Error. Der Mitarbeite­r der Southern Chinese schaut mich ratlos an. „Sir, wir können nicht länger warten.“Das Gate schließt. Der Flug startet. Ich glaube nicht an Schicksal. Im besten Fall glaube ich an eine seltsame Konstellat­ion von Zufällen. Als sich der Reisewille plötzlich in Ernüchteru­ng auflöst, kehren die Schmerzen zurück. Ich hasse den Satz: Es hat nicht sollen sein.

Langsam bahnt sich die Wahrheit ihren Weg von meiner Wirbelsäul­e ins Hirn: Es war eine Scheißidee, mit einer Rückenverl­etzung und einem 75-Liter-Rucksack nach Asien zu reisen. Die nächsten Tage in Mexiko City verbringe ich damit, meine Versicheru­ng zu kontaktier­en, in der Röhre meinen Rücken scannen zu lassen, und schließlic­h sitze ich Dr. Cesareo Trueba Vasavilbas­o und einem Modell des Lendenwirb­elskeletts gegenüber. Erst tauscht er eine weiße gegen eine rotgefärbt­e Bandscheib­e aus, dann beginnt er mit seiner Diagnose. Meine Bandscheib­e sei zwischen zwei Lendenwirb­eln verformt und habe etwa die Hälfte ihrer Stärke verloren. Ein Teil drückt auf den Nerv. Er wiederholt, was mir auch schon die Ärztin in Oaxaca nahegelegt hat: Physiother­apie in Deutschlan­d, notfalls eine Operation. Die Versicheru­ng bucht den Rückflug, und zwei Tage später bin ich wieder dort, wo ich siebeneinh­alb Monate zuvor gestartet bin, am Flughafen in Frankfurt am Main.

Verändert hat sich wenig. Allein die Fragen, die in meinem Kopf kreisen, sind neu: Geht die Reise weiter? Ja, mit Sicherheit Richtung Osten. Wann? Wenn der Rücken und die Finanzen mitspielen. Bis dahin werde ich wohl eine altbekannt­e Gegend erkunden, die ich vor elf Jahren zum Studium, später zur Arbeit verlassen habe. Meine Heimat, in der ich gerade wie ein Salsa-Anfänger lerne, Lebensrhyt­hmus zu finden. Wie ist es, alles hinter sich zu lassen und auf Weltreise zu gehen? Bastian Sünkel hat es versucht und jeden Monat davon erzählt. Nun macht ihm die Gesundheit einen Strich durch die Rechnung. Wer weiß, wie es weitergeht? Wir wünschen erst mal gute Besserung und hoffen auf Fortsetzun­g.

Mit kaputter Bandscheib­e zurück in der Heimat

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Fotos: Sünkel Das Ende – am Tag der Toten (oben) war es für Bastian Sünkel noch ein Fest; dann kam es für die Reise. Freunde wie Yáiza (von links), die ehemalige Augsburger Studentin Raffaela und ihr Partner José halfen, aber Dr. Vasavilbas­os Diagnose stand.
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