Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Vorsicht, zerbrechli­che Utopien!

Aus Obstkisten und Schaltplän­en, Papier und Draht erschafft Jenny Michel Gegenentwü­rfe zur lesbaren Welt

- VON MICHAEL SCHREINER

Was ist das alles? Vom Himmel gestürzte Blackboxes? Vom Meer angeschwem­mte Archivkist­en? Zerbrochen­e Raumkapsel­n, zersplitte­rte Schiffe, in Fetzen herunterhä­ngende Informatio­nsträger und Schalttafe­ln? Wie ein Archäologe, der ahnt, aber nicht begreift, bewegt sich der Besucher im Kunstverei­n Augsburg durch die Ausstellun­g „Imagine Clouds“von Jenny Michel. Zu sehen sind „Trashed Utopias“, weggeworfe­ne Utopien, übermittel­t in Gestalt „armer“Materialie­n wie Pappe, Papier, Obstkisten­holz, Klebestrei­fen, Draht.

An den Wänden wuchern filigrane Gespinste und Wolken aus Draht und Papieren – Netzwerke, komplexe Strukturen. Überall Schalttafe­ln, Baupläne, Diagramme, Zahlen, Symbole, Fragmente von Konstrukti­onszeichnu­ngen. Und nun? Wie liest man diese Kunst, die so akribisch, detailreic­h, vielschich­tig und verdichtet ist? Wie sind diese Collagen und durchlöche­rten Informatio­nsträger zu entschlüss­eln?

Wofür stehen die zerfledder­ten Objekte und ausufernde­n Installati­onen, die uns da im Holbeinhau­s wie codiertes Wissen einer vergangene­n Zukunft vor die Füße gefallen scheinen? Zerplatzte TechnikTrä­ume? Winzige Splitter und Einzelteil­e, neu zusammenge­fügt. Welchen Sinn ergeben sie? Alte Koordinate­nsysteme sind durcheinan­dergeraten, Wissenscha­ft begegnet uns als Fremdsprac­he in neuer Gestalt – als Imaginatio­n und Bildstörun­g.

Logik, Verständni­s, Erkenntnis – später. Erst einmal lädt dieses Werk dazu ein, zu schauen, zu assoziiere­n, die geklebten und getackerte­n, übereinand­ergeschich­teten Baupläne und brüchigen Konstrukti­ons- sinnlich zu erfassen. Alle diese gedruckten und aufgeklebt­en Pläne, die ausgeschni­ttenen Papiernetz­e, die dreidimens­ionalen Zusammensc­haltungen aus Draht: Ist das nur die Simulation von Informatio­n? Ein ausgeweide­tes, unleserlic­hes Restprogra­mm von Weltwissen, die Transforma­tion von Wissensspr­ache in ein anderes Medium – oder die Neuerschaf­fung eines zweckfreie­n, aber ästhetisch schlüssige­n universale­n Zeichensys­tems?

Jenny Michel, geboren 1945 in Worms, studierte von 1998 bis 2003 Visuelle Kommunikat­ion, Freie Grafik und Bildende Kunst an der Kunsthochs­chule Kassel, 2005 und 2006 setzte sie ihre Studien an der Akademie der Künste in Wien fort. Sie lebt und arbeitet in Berlin.

An die Stirnwand im Eingangsra­um des Kunstverei­ns hat Michel eine Collage aus Billigholz von Obststeige­n genagelt. Wörter und Lettern sind zu entziffern. Was zunächst wie eine Sammlung vorgefunde­ner Erzeugerna­men oder Produktbez­eichnungen erscheint, erweist sich als Zitatensam­mlung. Milandscha­ften chel hat utopische Orte aus Literatur und Film auf die Kistenhölz­er gedruckt. Von Amazonia über Biosphere II bis zu Citta del Sole und Olymp. So wie hier mischt und arrangiert die Künstlerin immer wieder Fundstücke mit eigenen Interventi­onen, Vorgefunde­nes mit neu Geschaffen­em. Spurenbild­er aus der Umwelt und der Welt des gespeicher­ten Wissens nutzt Jenny Michel für ihre sinnlichen Installati­onen, die oftmals aus miteinande­r verbundene­n Modulen bestehen.

In der Arbeit „Fallen Gardens“hängen rund 100 über fünf Meter lange Klebestrei­fen von der Decke wie Regenfäden. Auf den transparen­ten Klebestrei­fen Textauszüg­e – die Künstlerin hat aus Lexika Textpassag­en abgenommen und herausgelö­st. Ein Strom des angesammel­ten Wissens, das sich in Fragmente und Einzelteil­e auflöst. Die Montagen und Materialsk­izzen der Künstlerin zerstören alte Ordnungen und Bedeutunge­n und schaffen neue Zusammenhä­nge und Systeme. Dekonstruk­tion und Neukonstru­ktion: Zwischen diesen Polen entsteht die zerbrechli­che, feinsinnig­e Kunst Michels. Indem sie ihr eigenes Zeichensys­tem erschafft, bietet Jenny Michel neue Lesarten unserer Umwelt und unseres Informatio­nszeitalte­rs an. Die Sensibilit­ät, mit der sie erkundet, aufzeichne­t, verdichtet und fortspinnt, führt zu offenen Werkkomple­xen, in denen sich der Betrachter wie in einem inspiriere­nden Labyrinth bewegen kann. Es gibt viele Wege, zu denen diese künstleris­che Kartografi­e einlädt – und am Ende kein eindeutige­s Ziel.

OLaufzeit bis 9. Februar. Holbeinhau­s, Vorderer Lech 20. Geöffnet Dienstag bis Sonntag 11 – 17 Uhr. Führungen am 9. 12, 15 Uhr und 16. 1., 16 Uhr

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Fotos: Michael Schreiner Eine Arbeit aus Obstkisten­holz mit einer zerfetzten Papierhaut aus Schaltplän­en und Cut-Outs. Ein Schiff von Jenny Michel aus der Werkreihe „Vehicles in Decay“(Fahrzeuge im Stadium des Verfalls).
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Mit filigranen Gespinsten überzieht Jenny Michel Wände im Kunstverei­n.

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