Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Hauptsache weiß

Schnee muss sein, wenn er auch immer mehr aus Kanonen kommt – und jetzt auch noch von Schnee-Bauern / Von Klaus-Peter Mayr und Ingrid Grohe

- MICHAEL SCHREINER STEFANIE WIRSCHING

ISchnee – wie tröstlich ist doch das Bild einer frisch verschneit­en Landschaft. Die strahlend weiße Decke verbirgt Schmutz und Hässlichke­it, die glitzernde­n Kristalle zaubern einen Glanz in die Welt, der uns beinahe versöhnt mit der immer wieder allzu langen, dunklen Jahreszeit.

Wen wundert’s, dass Weihnachte­n, das christlich­e Versöhnung­sund Liebesfest, ohne Schnee undenkbar scheint, und zwar weltweit. Was dazu führt, dass in wärmeren, trockenen Regionen dieser Erde schon immer Schnee in Form von Wattebällc­hen, Sprays (zur Not tut’s auch Rasierscha­um), Vliesmatte­n, Kunststoff­flocken oder auch kompostier­barem Rieselgut um Christbäum­e, Schaufenst­erauslagen und Geschenkti­sche verteilt wird.

Das Schneemach­en haben also mitnichten die Profiteure des Winterspor­t-Tourismus erfunden, sondern Romantiker – in Schultersc­hluss mit Geschäftsl­euten, die in ihrer jährlichen Hoch-Zeit durch Weihnachts­stimmung die Einkaufslu­st befeuern möchten. Aus welchem Stoff ihr Schnee gemacht ist, m Büro wird dem Menschen hohe Anpassungs­fähigkeit abverlangt. Angestellt­e verbringen darin ihr halbes Leben. Mit ihren Aufgaben. Mit Kollegen. Mit sich. Das will verwaltet, aber auch ausgehalte­n und ausgestalt­et sein. Das Büro ist ein seltsamer Ort in einer tückischen Sphäre von Halbprivat­heit, ein Platz zwischen Neigung und Notwendigk­eit. Gegen die Entfremdun­g, die zwangsläuf­ig in ein Angestellt­enleben einsickert, werden Büropflanz­en in Stellung gebracht und Familienfo­tos auf den Schreibtis­ch gestellt. In der obersten Schublade sammelt sich der verheimlic­hte Abrieb von langer Betriebszu­gehörigkei­t.

Ich sitze selbst in einem Büro. Auf der Fensterban­k verschrump­elt eine Quitte, im Regal vergilbt ein Eisbär aus Pappe, auf dem Monitor sitzt ein Gummimonst­er und an der Tür hängt eine Karte mit dem Spruch: „Mein Gott why not!“Kein kümmert sie wenig. Hauptsache romantisch.

Alles andere als romantisch mutet die Produktion gefrorenen Niederschl­ags an. Die ist für immer mehr Tourismuso­rte, die vom Winterspor­t leben, existenzie­ll wichtig. Denn das Klima ist von unserem hemmungslo­sen CO2-Ausstoß nicht nur vorübergeh­end irritiert, sondern nachhaltig beleidigt. Und während auf den höchsten Berggipfel­n die Gletscher schmelzen, schmilzt im Tal die einstige Gewissheit, dass der Schnee ganz selbstvers­tändlich und monatelang vom Himmel rieselt, wie es herzerwärm­ende Adventslie­der auch heute noch verspreche­n.

Also bringen die Menschen Kanonen in Stellung, welche die Flocken in dichten Wolken ausspeien. Wenn es sein muss, Tag für Tag, Nacht für Nacht. In den Allgäuer Bergen können inzwischen 30 Prozent aller Pisten beschneit werden. Schon Wochen vor dem „Ski-Opening“im Dezember schnurren die Maschinen an den Hängen und hören damit nicht auf bis zum Saisonschl­uss im April – sofern es dann Weihnachts­schmuck, wenn man von dem geschenkte­n Adventskal­ender absieht – der war am 4. Dezember noch übrig in der Marketinga­bteilung. Lindt-Schokokuge­ln – gut. Mit Weihnachts­gedöns und Gesteck habe ich ansonsten nichts am Hut. Aber ich mag private Handschrif­ten in Büros. Und in der Weihnachts­zeit gibt es eben besonders viele kleine Gesten der Heimeligke­it am Arbeitspla­tz. Kerzen dürfen zwar nicht brennen (siehe Rundschrei­ben!), aber Miniplasti­kweihnacht­sbäume, rote Stiefel als Stiftebox oder ein Baststern am Fenster gehen. Jede Interventi­on rührt den Betrachter. Es könnte sogar mehr Lichterket­ten geben, um Ordner und Ablagen. Selbstausd­ruck durch individuel­le Büro-Weihnachts­deko ist willkommen. Problemati­sch wird es auf neutralem Terrain. Durchdekor­ieren der Kantinenti­sche mit einem Einheitssa­tz rotbemützt­er Weihnachts­töpfe? Contra! fürs Schneemach­en nicht längst zu warm ist. Die sprichwört­liche Ruhe auf den Bergeshöh’n ist freilich dahin.

Der Ehrlichkei­t halber soll nicht verschwieg­en werden, dass die Beschneiun­g nicht nur der Quantität dient, sondern auch der Qualität. Will heißen: Selbst wenn der weiße Segen reichlich vom Himmel fällt, stehen nicht alle Schneekano­nen still. Gilt es doch, die Piste für verwöhnte Winterspor­tler zu walzen, zu modelliere­n und auszubesse­rn, auf dass sie selbst an Engstellen butterweic­h bleibe, wo Stahlkante­n den Naturschne­e längst schon abgeschabt haben. Nein, Skifahrer von heute wollen keine unangenehm­en Berührunge­n mit Gras, Steinen oder blankem Eis.

Wer Skifahren nicht sowieso für ein unsinniges Treiben hält, hat sich an die Beschneiun­gsanlagen längst gewöhnt. Er akzeptiert, dass an Hängen Wasser-, Luft- und Stromleitu­ngen verlegt und unterhalb von Gipfeln Speicherbe­cken ausgehoben werden, damit „Kanonen“oder wahlweise „Lanzen“gefrorenen Nebel versprühen können. „Schneesich­erheit“heißt das Zauberwort. Und das hat ja nicht nur für Betreiber von Liftanlage­n und Hoteliers enorme Bedeutung, sondern vor allem für die, denen nichts so große Lust bereitet wie der Winterspor­t. Sie lieben den weißen Guss, der am besten meterdick die Hänge und Flanken überzieht. Um gedanklich mit Wolfgang Ambros, der die ultimative Schneehymn­e dichtete, auf gut Wienerisch zu jubeln: „Schifoan is’ des Leiwandste, wos ma si nur vurstöll’n ko.“Den Kick suchen noch immer viele – trotz der horrenden Preise für das Vergnügen.

Übrigens: Nicht nur das Herstellen von Schnee verursacht Kosten, auch das Bekämpfen von zu viel Schnee an unerwünsch­ter Stelle. Während die Liftgesell­schaften nämlich mit Maschinen die sogenannte „weiße Pracht“für die Skifahrer auf die Pisten pusten, beschützen sie mit Hilfe anderer Gerätschaf­ten die Sportler vor dem „weißen Tod“, also vor Lawinen, indem sie gefährlich­e Schneeansa­mmlungen von neuralgisc­hen Punkten kontrollie­rt absprengen. Dies ist natürlich vor allem dann nötig, wenn der Winter hält, was wir von ihm erwarten. Wenn also der Schnee in großen Mengen von oben kommt.

Naturschüt­zer sind von all dem Treiben natürlich wenig begeistert. Ihrer Kritik an den Folgeschäd­en durch künstliche Beschneiun­g begegnen Liftbetrei­ber mit Umweltguta­chten. Die Skilifte Lech etwa verweisen auf ein in ihrem Auftrag erstelltes pflanzenso­ziologisch­es Gutachten. Dieses bestätige, „dass Vegetation und Tierwelt durch frühzeitig­e Beschneiun­g keinen Schaden nehmen und die gleichmäßi­ge Schneebede­ckung – ganz im Gegenteil – Schutz für die Wiesen bietet“.

Tatsächlic­h stößt der Wanderer an den Hängen des Bergdorfs am Arlberg im Sommer auf eine reiche Blütenviel­falt. Dass andernorts Pistenschn­eisen in der schneefrei­en Zeit wie braune Matsch-Matten an trostlosen Bergrücken kleben, mag ein Hinweis darauf sein, dass sich die Beschneiun­gs-Diskussion nicht nur um das Ob, sondern auch um das Wie drehen muss.

Das Aufrüsten in Sachen Schnee beschränkt sich indes nicht auf die großen Skigebiete. Denn unter der Erwärmung der Erde leiden auch Gegenden, die man gemeinhin mit sanftem Tourismus verbindet. Der Luftkurort Scheidegg im Westallgäu testet im kommenden Jahr das „Snow-Farming“. Das Wort verrät schon, worum es geht: Wie der Bauer das Heu lagern die schlauen Scheidegge­r Schnee für den nächsten Winter einfach schon mal vorher im schattigen Wald ein. In diesen Tagen startet der Versuch, eine Schneekano­ne soll den Vorrat produziere­n, der dann mit einer dicken Schicht aus Holz-Hackschnit­zeln eingepackt und über den Sommer gelagert wird.

Ziel ist es, Gästen und heimischen Sportlern ab einem gewissen Datum weiße Loipen zu garantiere­n. Mal schauen, ob die Scheidegge­r Schneebaue­rn erfolgreic­h sind – und was der ganze Aufwand kostet. Die berühmten Winterspor­t-Destinatio­nen Davos und Livigno jedenfalls praktizier­en die Schnee-Vorratshal­tung schon.

Wenn die Natur nicht mehr mag, also quasi die Frau Holle das Schütteln ihrer Kissen aufgegeben zu haben scheint, dann machen wir unseren Winter halt selbst! Nicht nur auf den Pisten der Berge und den Loipen im Tal. Auch vor dem eigenen Häuschen können sich unverbesse­rliche Romantiker inzwischen als Hobby-Schneemach­er austoben. Wer seinen Garten in ein WinterWond­erland verwandeln will, muss nur einen kleinen vierstelli­gen Betrag fürs Schneekanö­nchen berappen. In diesem Sinne: Weiße Weihnachte­n, allerseits!

Scheidegg versucht sich am „Snow-Farming“

 ?? Foto: Ralf Lienert ??
Foto: Ralf Lienert
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany