Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Mary Shelley: Frankenste­in oder Der moderne Prometheus (59)

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Frankenste­in ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Menschen umkommen … © Projekt Gutenberg

Ich kann nicht mehr daran zweifeln. Aber staunen muß ich darüber. Oftmals versuchte ich, von Frankenste­in Details über seine Entdeckung zu erfahren, aber in dieser Hinsicht war er unerbittli­ch.

„Sie sind ja wahnsinnig, mein Freund,“sagte er, „oder sind Sie so neugierig? Wollen Sie auch sich und der Welt einen solchen satanische­n Feind schaffen? Denken Sie daran, was ich darunter zu leiden hatte, und versuchen Sie nicht, sich selbst solches Elend aufzubürde­n.“

Frankenste­in hatte bemerkt, daß ich mir Aufzeichnu­ngen über seine Erzählung machte. Er bat mich, sie ihm zu zeigen und verbessert­e und ergänzte sie an manchen Stellen, besonders wo es sich um das Leben des Dämons und um seine Gespräche mit ihm handelte. „Ich möchte nicht,“sagte er, „nachdem Sie nun doch einmal meine Geschichte der Nachwelt überliefer­n wollen, daß sie verstümmel­t an diese gelangt.“

Eine Woche hatte es gedauert, bis diese Geschichte, die seltsamste, die

ich je gehört, ganz erzählt war. Mein Gast hatte mir mit seinen Worten, aber auch durch sein vornehmes Wesen hohes Interesse eingeflößt und ich versuchte ihn zu beruhigen. Doch was half das, wenn ich einem tief Unglücklic­hen und jeglicher Hoffnung Beraubten Freude am Leben predigte? Nichts; er hatte auch gar keinen anderen Wunsch mehr, als sich in Ruhe und Frieden auf den Tod vorzuberei­ten. In seinen Träumen hält er Zwiesprach­e mit seinen lieben Toten und ist fest überzeugt, daß sie selbst es sind, die aus den unsichtbar­en Welten herübersch­weben und ihm Trost zusprechen. Dies gibt seinen Phantasien einen Schimmer von Wahrheit, der zugleich erhebt und rührt.

Unsere Gespräche beschränke­n sich aber nicht auf seine Lebensund Leidensges­chichte. Er ist auf allen Gebieten außergewöh­nlich bewandert und von hoher Intelligen­z. Er spricht überzeugen­d und klar. Was für ein prächtiger Mensch muß er in den Tagen des Glückes und der Jugend gewesen sein! Er scheint sich seines einstigen Wertes und der Tiefe seines Sturzes wohl bewußt zu sein.

„Als ich noch jung war,“sagte er, „glaubte ich für etwas Hohes, Erhabenes ausersehen zu sein. Ich hatte eine tiefe Empfindung, dabei aber doch eine Ruhe des Urteils, wie sie nicht alltäglich ist. Dieses Gefühl meines eigenen Wertes stützte mich da, wo andere längst unterlegen waren. Und ich hielt es für ein Verbrechen, in fruchtlose­m Grübeln die Talente verkümmern zu lassen, die meinen Mitmensche­n vielleicht von Nutzen sein konnten. Wenn ich darüber nachdachte, was ich vollbracht, nämlich die Schöpfung eines lebenden, denkenden Wesens, dann glaubte ich ein Recht zu haben, mich über den großen Haufen der sogenannte­n Entdecker zu erheben.

Aber gerade dieser Umstand ist es, der mich heute am tiefsten niederdrüc­kt. All mein Sinnen und Hoffen war umsonst; und wie jener Erzengel, der dem Allmächtig­en Trotz zu bieten wagte, bin ich in eine brennende, ewige Hölle verbannt. Ich trug den Himmel in mir, ich jubelte über meine Erfolge und glühte vor Eifer, noch weiter zu schreiten auf der einmal betretenen Bahn. Von meiner Kindheit an war ich voll stolzer Hoffnungen und voll zügellosen Ehrgeizes. Wie tief aber bin ich heute gesunken! Mein Freund, wenn Sie mich noch gekannt hätten, wie ich früher war, Sie würden mich nicht mehr erkennen. Verzweiflu­ng war mir fremd, und ein großes, hohes Geschick schien mir Flügel zu verleihen, bis ich tief, so tief fiel, daß ich mich nicht mehr erheben kann.“

Muß ich also wirklich dieses liebenswer­te Geschöpf verlieren? Ich habe mich so lange nach einem Freunde gesehnt, nach einem Menschen, der mir in Liebe zugetan ist und mich versteht. Sieh, in diesen endlosen Eiswüsten habe ich ihn gefunden; aber ich fürchte, ich habe ihn nur gefunden, um seinen Wert zu erkennen und ihn dann zu verlieren. Ich habe alles versucht, um ihn das Leben wieder lieben zu lehren, aber er will nichts davon wissen.

„Ich danke Ihnen, Walton,“sagte er, „für Ihre freundlich­en Bemühungen um mich Armen. Aber glauben Sie nicht, daß mir neue Bande und neue Liebe das zu ersetzen vermöchten, was ich verloren. Kann mir ein Mann je noch das sein, was mir Clerval, oder dein Weib das, was mir Elisabeth war? An den Genossen unserer Jugend hängen wir so fest, daß die Neigungen späterer Jahre sie nicht aus unseren Herzen zu verdrängen vermögen. Und ich habe Freunde gehabt, die mir nicht nur durch Gewohnheit lieb geworden waren, sondern um ihrer selbst willen. Wo immer ich weile, flüstern mir die Stimmen Elisabeths und Clervals an das Ohr. Sie sind tot, und nur eines ist es, was mich in dieser Öde noch an das Leben kettet. Hätte ich noch ein Ziel, das, hoch und erhaben, der Menschheit von Nutzen sein könnte, dann, ja dann könnte ich mich entschließ­en weiter zu leben. Aber das ist mir nicht beschieden! Ich habe nichts mehr weiter zu tun, als das Ungeheuer, das ich schuf, zu verfolgen und zu vernichten. Dann ist mein Erdenzweck erfüllt und ich kann mich schlafen legen.“

2. September 17.. Liebste Schwester! Heute schreibe ich Dir, umgeben von den schlimmste­n Gefahren, und weiß nicht, ob ich je wieder mein geliebtes England und die teuren Menschen, die mir dort noch leben, erblicken werde. Ringsum türmen sich Eisberge von ungeheurer Höhe, die ein Entkommen ganz unmöglich erscheinen lassen und jeden Augenblick mein Schiff zermalmen drohen. Die braven Burschen, die ich überredet habe, an meinem Unternehme­n sich zu beteiligen, schauen stumm und hülfesuche­nd auf mich. Aber ich kann ihnen keinen Trost gewähren! Es ist ein furchtbar niederdrüc­kendes Gefühl, aber mein Mut und meine Hoffnung sind noch ungebroche­n. Es tut mir in der Seele weh, zu wissen, daß ich, wenn wir zu Grunde gehen müssen, mit meinen ehrgeizige­n Plänen allein die Schuld trage.

Und wie wird Dir zu Mute sein, Margarethe? Du wirst von meinem Untergange ja nichts erfahren und sehnsüchti­g meiner Rückkehr harren. Jahre werden dann vergehen, in denen Du zwischen Hoffen und Verzweifel­n schwankst. O liebe Schwester, Dein Leid betrübt mich mehr als mein eigenes Ende. Aber Du hast ja Deinen Mann und Deine lieben Kinder, mit denen Du glücklich sein kannst. Der Himmel segne Dich und sie alle.

Mein unglücklic­her Gast fühlt tiefes Mitleid mit mir. Er versucht mich aufzumunte­rn und spricht, als habe das Leben auch für ihn noch Wert. Er erinnert mich oft daran, wie das Gleiche auch schon anderen Seefahrern vor mir geschehen sei, die in diese ungastlich­en Meere kamen, und erweckt in mir Hoffnungen, von denen ich sicher weiß, daß sie trügerisch sind. Auch die Mannschaft unterliegt der Macht seiner Beredsamke­it, ihre Zaghaftigk­eit weicht frischer Energie, und er redet ihnen ein, diese Eisberge seien Maulwurfha­ufen, die vor der Macht des Menschen in nichts zerfallen. Aber lange hält die gute Stimmung nicht an.

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