Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Perfekt ist von der Natur nicht vorgesehen

Wer zu viele Ratgeber liest, kann leicht in Stress geraten

- VON TANJA WURSTER

Kürzlich lief ich an der Stadtbüche­rei vorbei und wurde sehnsüchti­g. Wann habe ich zuletzt ein Buch gelesen? Während ich früher zwei bis vier Bücher im Monat verschlang, beschränkt sich jetzt meine Lektüre oft auf das Studieren der neuesten Prospekte der örtlichen Discounter.

Schluss damit! Ich lieh mir zwei Bücher aus. Daheim ärgerte ich mich. Wollte ich mit dem Lesen nicht mal was für mich tun? Lesen und entspannen war doch der Plan und nicht lesen und sich informiere­n. Denn, ja, ich gebe es zu, die beiden Bücher waren Ratgeber zum Thema Kinder.

Egal, sage ich mir, und nahm Josef Althaus’ Buch „Das sind unsere besten Jahre“zur Hand. Ich mochte den Autor sofort: „Das Ideal der perfekten Mutter ist von Natur aus nicht vorgesehen“, schreibt der Kinderarzt. Ich frohlockte und las begeistert weiter: „Vielmehr hat die Natur Platz für eine verträglic­he Fehlerquot­e eingeplant.“Das hört sich doch mal gut an und nimmt so viel Druck raus!

Frauen neigen gemeinhin ja zur Perfektion, um nicht zu sagen zum Perfektion­swahn. Selbst wenn man gar nicht so sein will, es ist echt nicht leicht, sich diesem Stress zu entziehen. Oder warum greife ich in der Bücherei anstatt zum Roman zum Kinderratg­eber? Doch jetzt, die Offenbarun­g schlechthi­n: Fehler zu machen ist voll in Ordnung! Die Moralinsta­nz Kinderarzt erteilt mir quasi die Absolution von oben.

Ich muss nicht befürchten, dass das Kind gleich Schaden nimmt, wenn ich Mist baue – zumindest, wenn ich meinem Sohn nicht erlaube, mit der Scherenspi­tze in der Steckdose herumzufuh­rwerken. Laut Althaus bereiten perfekte Eltern ihre Kinder schlecht auf die Welt vor, die wiederum nicht perfekt ist.

Ich freue mich über Althaus’ Ausführung­en. Doch ich habe die Rechnung ohne mein Gehirn gemacht: Was ist, wenn ich mich aber dennoch perfekt verhalte, weil gerade alles wie am Schnürchen läuft? Ist das dann in der Konsequenz unperfekt, weil ich ja genau das Gegenteil von dem erziele, was ich möchte? Mein Hirn rattert weiter: Wenn unperfekt zu sein bedeutet, dass ich mein Kind richtig auf das Leben vorbereite, dann ist unperfekt das neue perfekt. Gar nicht so leicht …

Vielleicht sollte ich mir das nächste Mal den neuen Krimi mit Kluftinger ausleihen. Der ist auch so herrlich unperfekt.

Tanja Wurster, 34, ist freie Mitarbeite­rin der Landboten-Redaktion und lebt mit ihrer Familie in Augsburg.

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