Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Mitten im Terror

Schon wieder zerstört ein mutmaßlich­er Islamist ein vorweihnac­htliches Idyll, diesmal in Straßburg. Wie eine junge Augsburger­in den Anschlag als Augenzeugi­n erlebt und sich der Täter danach von einem Taxifahrer chauffiere­n lässt

- VON BIRGIT HOLZER, MICHAEL STIFTER UND ANDREAS FREI

Straßburg Auch am Tag nach den schrecklic­hen Ereignisse­n hat Laura Sattelmair noch keine Ruhe gefunden. Wie sollte sie auch?

Straßburg mit seinen 280 000 Einwohnern ist fast so groß wie Augsburg und nennt sich Weihnachts­hauptstadt. Mehr als 300 Marktbuden im gesamten Zentrum laden Einheimisc­he und hunderttau­sende Touristen zum Flanieren ein. Nur wenige Weihnachts­märkte in Europa haben eine ähnlich lange Tradition wie der im Elsass.

Am Dienstagab­end ist Laura Sattelmair, eine junge Augsburger­in, gerade erst auf dem Markt am zentralen Place Kléber angekommen, als die ersten Schüsse fallen. „Ich kann mich nur noch schemenhaf­t erinnern, weil ich wahrschein­lich sofort unter Schock stand“, erzählt die 24-Jährige dem Radiosende­r Hitradio RT1, für den sie als Moderatori­n arbeitet. Sie war mit einer Freundin beim Eislaufen und will den Abend ruhig ausklingen lassen, als der Täter das Feuer eröffnet. „Plötzlich fingen alle Menschen an zu rennen“, berichtet sie.

Auch Laura Sattelmair läuft los. Vorbei an den bunt blinkenden Ständen des Weihnachts­marktes. Wie ferngesteu­ert.

Ihre Freundin hört mindestens drei Schüsse und gerät in Panik. Sie selbst bleibt zunächst ruhig. Erst viel später wird sie realisiere­n, was um sie herum passiert. Als die beiden jungen Frauen in eine Seitenstra­ße kommen, sehen sie einen blutenden Mann am Boden liegen. Einige Menschen versuchen, ihm zu helfen, andere rennen schreiend weiter. Laura Sattelmair entdeckt eine Gruppe von Polizisten und macht sie auf das Opfer aufmerksam. Da ist der Mann offenbar schon tot. Ihre Flucht führt die Augsburger­in und ihre Freundin in ein Café.

Die Türen werden von innen verriegelt und die Fenster mit großen Planen verdeckt. „Wir sind dann alle sofort hoch in den zweiten Stock, um uns in Sicherheit zu bringen.“Dort versuchen sich die Menschen gegenseiti­g zu beruhigen. Vier Stunden lang müssen sie hier auf Entwarnung warten.

Wieder also herrscht Terroralar­m in einer französisc­hen Stadt. Paris, Nizza, nun Straßburg. Und wieder folgt die ganze Kette an Sofortmaßn­ahmen: höchste Sicherheit­sstufe, jede Menge Polizeikon­trollen, Spezialein­heiten, die fieberhaft nach dem flüchtigen Täter suchen.

„Es war eine ziemlich bizarre Stimmung“, erzählt Laura Sattelmair. Erst gegen Mitternach­t ist die Ungewisshe­it zu Ende und sie dürfen das Haus verlassen. Zumindest dieser Teil Straßburgs gilt jetzt als sicher.

Freunde und Familie machen sich große Sorgen um die junge Frau. Noch am nächsten Tag bekommt sie viele Nachrichte­n und Anrufe. Sie antwortet, dass es ihr gut geht, dass sie Glück gehabt hat. Sie sagt immer wieder, dass man sich von solchen Tätern keine Angst machen lassen darf. Und dass sie jetzt erst einmal ein bisschen Ruhe braucht.

So ist die Gefühlslag­e bei vielen Menschen. Am Mittwoch bleiben die Glühweinst­ände und MaronenBud­en erst mal geschlosse­n. Es gibt keine gebrannten Mandeln, weder wird Christbaum-Deko verkauft noch fröhliches Weihnachts-Gedudel gespielt. Auch viele Museen und Sportzentr­en legen einen Ruhetag ein. Um elf Uhr schweigt die Stadt eine Minute lang.

Der Verantwort­liche für den Weihnachts­markt, der stellvertr­etende Bürgermeis­ter Alain Fontanel, beschreibt die Stimmung so: „Straßburg wacht mit dem Geschmack von Blut im Mund auf. Weil wir eine Stadt in Trauer sind, haben wir heute alle Veranstalt­ungen abgesagt.“

Die sonst so lebendige Stadt sei kaum wiederzuer­kennen, sagt die EU-Abgeordnet­e Kerstin Westphal, die wegen der Sitzungswo­che des Parlaments vor Ort ist. Am Dienstag saß die SPD-Politikeri­n mit Mitarbeite­rn in einem Restaurant im Zentrum, als die Wirtin plötzlich die Tür abschloss und die Fenster zuhängte. Draußen habe es einen Anschlag gegeben, hieß es. „Im ersten Moment stehst du neben dir. Man macht sich erst später bewusst, dass man eine halbe Stunde vorher noch selbst am Tatort einen Glühwein getrunken hat“, sagt Westphal.

Ihr Parlaments­kollege Markus Ferber aus Bobingen, zugleich Chef der schwäbisch­en CSU, will nur so viel sagen: „Ich war in Sicherheit.“Und: „Ich habe den Terror in Brüssel erlebt, jetzt Straßburg...“In seiner Stimme liegt viel Ernüchteru­ng.

Es ist kurz vor acht an diesem Horror-Abend, als ein Mann in einer verkehrsbe­ruhigten Straße Passanten mit einer Handfeuerw­affe und einem Messer angreift. Der Name eines dringend Verdächtig­en macht schnell die Runde: Chérif Chekatt, 29, geboren in Straßburg, Franzose mit nordafrika­nischen Wurzeln, zigfach vorbestraf­t mit Gefängnis-Erfahrung auch in Deutschlan­d. Noch am Morgen wollte ihn die Polizei festnehmen, angeblich wegen Mordversuc­hs, traf ihn aber in seiner Wohnung nicht an. Er soll derjenige sein, der an diesem kalten Tag drei Menschen tötet, darunter einen Touristen aus Thailand mit einem Schuss in den Kopf, und 13 zum Teil lebensgefä­hrlich verletzt.

Der Täter liefert sich einen Schusswech­sel mit Soldaten der Anti-Terror-Operation „Sentinelle“, bei dem er am Arm verletzt wird. Dann steigt er in ein Taxi und lässt sich in das Stadtviert­el Neudorf bringen. Der Fahrer meldet sich später in einem Polizei-Kommissari­at. Er berichtet, einen bewaffnete­n und verletzten Mann chauffiert zu haben. Dieser habe ihm erzählt, dass er gerade ein Attentat begangen und zehn Menschen getötet habe.

In Neudorf stößt der Täter auf eine Polizei-Patrouille, es kommt zu einem weiteren Schusswech­sel. Dann verliert sich seine Spur. Bleibt er im Umkreis oder setzt er sich ab, vielleicht sogar nach Deutschlan­d?

600 Einsatzkrä­fte fahnden am Mittwoch nach Chérif Chekatt und auch seinem Bruder Sami. Das französisc­he Innenminis­terium ruft die höchste Sicherheit­sstufe aus. Diese erlaubt verstärkte Grenz- und Sicherheit­skontrolle­n, auch bei anderen Weihnachts­märkten im Land, um mögliche Nachahmert­aten zu verhindern.

Noch in der Nacht hat die AntiTerror-Abteilung der Pariser Staatsanwa­ltschaft Ermittlung­en aufgenomme­n. Bei einer Pressekonf­erenz am Mittag lässt Staatsanwa­lt Rémy Heitz keinen Zweifel an der Motivation des Täters, der Zeugenauss­agen zufolge „Allahu Akbar“gerufen hat – Gott ist groß. „Der Terrorismu­s hat ein erneutes Mal auf unserem Staatsgebi­et zugeschlag­en“, sagt Heitz. Ermittler durchsuche­n mehrere Wohnungen und nehmen vier Personen aus dem Umfeld des mutmaßlich­en Täters fest. Die Polizei veröffentl­icht ein Fahndungsf­oto und eine Täterbesch­reibung: 29 Jahre alt, 1,80 Meter groß, kurze Haare, eine Narbe auf der Stirn, vielleicht Bartträger.

Jetzt also auch noch Terror. Es ist ja nicht so, dass die Franzosen gerade ruhige Zeiten erleben. Seit Wochen ist die Stimmung im Land aufgeheizt. Massenprot­este und gewaltsame Auseinande­rsetzungen gegen die Politik von Präsident Macron prägen das öffentlich­e Leben. Auch für diesen Samstag hat die Bewegung der „Gelbwesten“zu Demonstrat­ionen aufgerufen. Nun appelliere­n mehrere Politiker nicht nur aus der Regierungs­partei an die Organisato­ren, die Proteste auszusetze­n. Ein Stopp dränge sich aus Respekt vor den Opfern auf, aber auch um die Einsatzkrä­fte zu schonen, sagt der Vizechef der Republikan­er, Damien Abad.

Seit Macron am Montag auf einige Forderunge­n der „Gelbwesten“eingegange­n ist, bröckelt die Unterstütz­ung der Öffentlich­keit für die Bewegung. Deren Wortführer haben sich bereits vor dem Anschlag uneins über das weitere Vorgehen gezeigt; einige rufen nun aber dazu auf, den Protest fortzusetz­en. In den sozialen Netzwerken zirkuliere­n Theorien, wonach die Staatsspit­ze

Laura Sattelmair flüchtete in ein Café

Die Stadt war schon mehrmals im Visier

zu einem Komplott gegriffen habe, um die unbequeme Protestbew­egung einzudämme­n. „Das Attentat kommt allzu passend“, heißt es auf einer der einschlägi­gen FacebookSe­iten.

Kritik wird auch an den Sicherheit­svorkehrun­gen laut, weil der bewaffnete Täter problemlos in die Innenstadt gelangen konnte. Der Verantwort­liche für den Weihnachts­markt, Alain Fontanel, weist die Vorwürfe scharf zurück. Seit den Attentaten von Paris 2015 und dem Anschlag auf den Berliner Weihnachts­markt 2016 seien die Kontrollma­ßnahmen stets verschärft worden. Täglich würden hunderte Polizisten, private Sicherheit­skräfte sowie einige Dutzend Soldaten eingesetzt. So sei 2016 ein Attentat verhindert worden.

Und auch im Jahr 2000. Schon damals nahmen Islamisten den Weihnachts­markt ins Visier. Sie wollten mit einem zum Sprengsatz umgebauten Schnellkoc­htopf ein Blutbad anrichten. Der von Deutschlan­d aus vorbereite­te Anschlag der sogenannte­n Frankfurte­r Zelle wurde gerade noch vereitelt. Vier Männer wurden später in Frankfurt am Main zu Haftstrafe­n von zehn bis zwölf Jahren verurteilt.

Roland Ries, Straßburgs Bürgermeis­ter, ruft dazu auf, nach der Zeit der Trauer „so schnell wie möglich unsere Lebensweis­e wiederzufi­nden“. Auf dass die Stadt so lebendig bleibe wie zuvor. Der Weihnachts­markt soll auch an diesem Donnerstag geschlosse­n bleiben.

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Fotos (2): Sebastian Gollnow, dpa Straßburg am Tag danach: Ein Polizist steht unweit des Weihnachts­marktes vor einem der Tatorte. Die Anti-Terror-Spezialist­en der Pariser Staatsanwa­ltschaft haben die Ermittlung­en übernommen.
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Foto: Hitradio RT1 Augenzeugi­n in Straßburg: Laura Sattelmair aus Augsburg.
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„Der Terror hat wieder zugeschlag­en“: Staatsanwa­lt Rémy Heitz.

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