Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Mitten im Terror
Schon wieder zerstört ein mutmaßlicher Islamist ein vorweihnachtliches Idyll, diesmal in Straßburg. Wie eine junge Augsburgerin den Anschlag als Augenzeugin erlebt und sich der Täter danach von einem Taxifahrer chauffieren lässt
Straßburg Auch am Tag nach den schrecklichen Ereignissen hat Laura Sattelmair noch keine Ruhe gefunden. Wie sollte sie auch?
Straßburg mit seinen 280 000 Einwohnern ist fast so groß wie Augsburg und nennt sich Weihnachtshauptstadt. Mehr als 300 Marktbuden im gesamten Zentrum laden Einheimische und hunderttausende Touristen zum Flanieren ein. Nur wenige Weihnachtsmärkte in Europa haben eine ähnlich lange Tradition wie der im Elsass.
Am Dienstagabend ist Laura Sattelmair, eine junge Augsburgerin, gerade erst auf dem Markt am zentralen Place Kléber angekommen, als die ersten Schüsse fallen. „Ich kann mich nur noch schemenhaft erinnern, weil ich wahrscheinlich sofort unter Schock stand“, erzählt die 24-Jährige dem Radiosender Hitradio RT1, für den sie als Moderatorin arbeitet. Sie war mit einer Freundin beim Eislaufen und will den Abend ruhig ausklingen lassen, als der Täter das Feuer eröffnet. „Plötzlich fingen alle Menschen an zu rennen“, berichtet sie.
Auch Laura Sattelmair läuft los. Vorbei an den bunt blinkenden Ständen des Weihnachtsmarktes. Wie ferngesteuert.
Ihre Freundin hört mindestens drei Schüsse und gerät in Panik. Sie selbst bleibt zunächst ruhig. Erst viel später wird sie realisieren, was um sie herum passiert. Als die beiden jungen Frauen in eine Seitenstraße kommen, sehen sie einen blutenden Mann am Boden liegen. Einige Menschen versuchen, ihm zu helfen, andere rennen schreiend weiter. Laura Sattelmair entdeckt eine Gruppe von Polizisten und macht sie auf das Opfer aufmerksam. Da ist der Mann offenbar schon tot. Ihre Flucht führt die Augsburgerin und ihre Freundin in ein Café.
Die Türen werden von innen verriegelt und die Fenster mit großen Planen verdeckt. „Wir sind dann alle sofort hoch in den zweiten Stock, um uns in Sicherheit zu bringen.“Dort versuchen sich die Menschen gegenseitig zu beruhigen. Vier Stunden lang müssen sie hier auf Entwarnung warten.
Wieder also herrscht Terroralarm in einer französischen Stadt. Paris, Nizza, nun Straßburg. Und wieder folgt die ganze Kette an Sofortmaßnahmen: höchste Sicherheitsstufe, jede Menge Polizeikontrollen, Spezialeinheiten, die fieberhaft nach dem flüchtigen Täter suchen.
„Es war eine ziemlich bizarre Stimmung“, erzählt Laura Sattelmair. Erst gegen Mitternacht ist die Ungewissheit zu Ende und sie dürfen das Haus verlassen. Zumindest dieser Teil Straßburgs gilt jetzt als sicher.
Freunde und Familie machen sich große Sorgen um die junge Frau. Noch am nächsten Tag bekommt sie viele Nachrichten und Anrufe. Sie antwortet, dass es ihr gut geht, dass sie Glück gehabt hat. Sie sagt immer wieder, dass man sich von solchen Tätern keine Angst machen lassen darf. Und dass sie jetzt erst einmal ein bisschen Ruhe braucht.
So ist die Gefühlslage bei vielen Menschen. Am Mittwoch bleiben die Glühweinstände und MaronenBuden erst mal geschlossen. Es gibt keine gebrannten Mandeln, weder wird Christbaum-Deko verkauft noch fröhliches Weihnachts-Gedudel gespielt. Auch viele Museen und Sportzentren legen einen Ruhetag ein. Um elf Uhr schweigt die Stadt eine Minute lang.
Der Verantwortliche für den Weihnachtsmarkt, der stellvertretende Bürgermeister Alain Fontanel, beschreibt die Stimmung so: „Straßburg wacht mit dem Geschmack von Blut im Mund auf. Weil wir eine Stadt in Trauer sind, haben wir heute alle Veranstaltungen abgesagt.“
Die sonst so lebendige Stadt sei kaum wiederzuerkennen, sagt die EU-Abgeordnete Kerstin Westphal, die wegen der Sitzungswoche des Parlaments vor Ort ist. Am Dienstag saß die SPD-Politikerin mit Mitarbeitern in einem Restaurant im Zentrum, als die Wirtin plötzlich die Tür abschloss und die Fenster zuhängte. Draußen habe es einen Anschlag gegeben, hieß es. „Im ersten Moment stehst du neben dir. Man macht sich erst später bewusst, dass man eine halbe Stunde vorher noch selbst am Tatort einen Glühwein getrunken hat“, sagt Westphal.
Ihr Parlamentskollege Markus Ferber aus Bobingen, zugleich Chef der schwäbischen CSU, will nur so viel sagen: „Ich war in Sicherheit.“Und: „Ich habe den Terror in Brüssel erlebt, jetzt Straßburg...“In seiner Stimme liegt viel Ernüchterung.
Es ist kurz vor acht an diesem Horror-Abend, als ein Mann in einer verkehrsberuhigten Straße Passanten mit einer Handfeuerwaffe und einem Messer angreift. Der Name eines dringend Verdächtigen macht schnell die Runde: Chérif Chekatt, 29, geboren in Straßburg, Franzose mit nordafrikanischen Wurzeln, zigfach vorbestraft mit Gefängnis-Erfahrung auch in Deutschland. Noch am Morgen wollte ihn die Polizei festnehmen, angeblich wegen Mordversuchs, traf ihn aber in seiner Wohnung nicht an. Er soll derjenige sein, der an diesem kalten Tag drei Menschen tötet, darunter einen Touristen aus Thailand mit einem Schuss in den Kopf, und 13 zum Teil lebensgefährlich verletzt.
Der Täter liefert sich einen Schusswechsel mit Soldaten der Anti-Terror-Operation „Sentinelle“, bei dem er am Arm verletzt wird. Dann steigt er in ein Taxi und lässt sich in das Stadtviertel Neudorf bringen. Der Fahrer meldet sich später in einem Polizei-Kommissariat. Er berichtet, einen bewaffneten und verletzten Mann chauffiert zu haben. Dieser habe ihm erzählt, dass er gerade ein Attentat begangen und zehn Menschen getötet habe.
In Neudorf stößt der Täter auf eine Polizei-Patrouille, es kommt zu einem weiteren Schusswechsel. Dann verliert sich seine Spur. Bleibt er im Umkreis oder setzt er sich ab, vielleicht sogar nach Deutschland?
600 Einsatzkräfte fahnden am Mittwoch nach Chérif Chekatt und auch seinem Bruder Sami. Das französische Innenministerium ruft die höchste Sicherheitsstufe aus. Diese erlaubt verstärkte Grenz- und Sicherheitskontrollen, auch bei anderen Weihnachtsmärkten im Land, um mögliche Nachahmertaten zu verhindern.
Noch in der Nacht hat die AntiTerror-Abteilung der Pariser Staatsanwaltschaft Ermittlungen aufgenommen. Bei einer Pressekonferenz am Mittag lässt Staatsanwalt Rémy Heitz keinen Zweifel an der Motivation des Täters, der Zeugenaussagen zufolge „Allahu Akbar“gerufen hat – Gott ist groß. „Der Terrorismus hat ein erneutes Mal auf unserem Staatsgebiet zugeschlagen“, sagt Heitz. Ermittler durchsuchen mehrere Wohnungen und nehmen vier Personen aus dem Umfeld des mutmaßlichen Täters fest. Die Polizei veröffentlicht ein Fahndungsfoto und eine Täterbeschreibung: 29 Jahre alt, 1,80 Meter groß, kurze Haare, eine Narbe auf der Stirn, vielleicht Bartträger.
Jetzt also auch noch Terror. Es ist ja nicht so, dass die Franzosen gerade ruhige Zeiten erleben. Seit Wochen ist die Stimmung im Land aufgeheizt. Massenproteste und gewaltsame Auseinandersetzungen gegen die Politik von Präsident Macron prägen das öffentliche Leben. Auch für diesen Samstag hat die Bewegung der „Gelbwesten“zu Demonstrationen aufgerufen. Nun appellieren mehrere Politiker nicht nur aus der Regierungspartei an die Organisatoren, die Proteste auszusetzen. Ein Stopp dränge sich aus Respekt vor den Opfern auf, aber auch um die Einsatzkräfte zu schonen, sagt der Vizechef der Republikaner, Damien Abad.
Seit Macron am Montag auf einige Forderungen der „Gelbwesten“eingegangen ist, bröckelt die Unterstützung der Öffentlichkeit für die Bewegung. Deren Wortführer haben sich bereits vor dem Anschlag uneins über das weitere Vorgehen gezeigt; einige rufen nun aber dazu auf, den Protest fortzusetzen. In den sozialen Netzwerken zirkulieren Theorien, wonach die Staatsspitze
Laura Sattelmair flüchtete in ein Café
Die Stadt war schon mehrmals im Visier
zu einem Komplott gegriffen habe, um die unbequeme Protestbewegung einzudämmen. „Das Attentat kommt allzu passend“, heißt es auf einer der einschlägigen FacebookSeiten.
Kritik wird auch an den Sicherheitsvorkehrungen laut, weil der bewaffnete Täter problemlos in die Innenstadt gelangen konnte. Der Verantwortliche für den Weihnachtsmarkt, Alain Fontanel, weist die Vorwürfe scharf zurück. Seit den Attentaten von Paris 2015 und dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt 2016 seien die Kontrollmaßnahmen stets verschärft worden. Täglich würden hunderte Polizisten, private Sicherheitskräfte sowie einige Dutzend Soldaten eingesetzt. So sei 2016 ein Attentat verhindert worden.
Und auch im Jahr 2000. Schon damals nahmen Islamisten den Weihnachtsmarkt ins Visier. Sie wollten mit einem zum Sprengsatz umgebauten Schnellkochtopf ein Blutbad anrichten. Der von Deutschland aus vorbereitete Anschlag der sogenannten Frankfurter Zelle wurde gerade noch vereitelt. Vier Männer wurden später in Frankfurt am Main zu Haftstrafen von zehn bis zwölf Jahren verurteilt.
Roland Ries, Straßburgs Bürgermeister, ruft dazu auf, nach der Zeit der Trauer „so schnell wie möglich unsere Lebensweise wiederzufinden“. Auf dass die Stadt so lebendig bleibe wie zuvor. Der Weihnachtsmarkt soll auch an diesem Donnerstag geschlossen bleiben.